Jack McEvoy 01 - Der Poet
McEvoys Story groß herausgebracht. Ich habe es auf dem Flughafen gesehen. Natürlich bringen sie den Poeten nicht mit Gladden in Verbindung, aber Gomble könnte es sich zusammengereimt haben. CNN hat auch die Aufnahmen aus Phoenix noch einmal gezeigt. Wenn er das gesehen hat, wusste er vermutlich Bescheid, auch ohne dass ich ein Wort sagte.«
Ich hörte zum ersten Mal von einer Reaktion auf meine Story. Die Ereignisse des Tages hatten bewirkt, dass ich sie völlig vergessen hatte.
»Besteht die Möglichkeit, dass Gladden und Gomble miteinander kommuniziert haben?«, fragte Backus.
»Das glaube ich nicht«, sagte Rachel. »Ich habe mit den Wärtern gesprochen. Gombles Post wird immer noch zensiert. Eingehende ebenso wie ausgehende. Er hat es fertig gebracht, sich zum Vertrauenshäftling emporzuarbeiten und arbeitet jetzt in einer Abteilung, wo alle Lieferungen für das Gefängnis ankommen. Natürlich besteht immer die Möglichkeit, dass darin irgendwelche Botschaften enthalten sind, aber ich bezweifle es. Ich bezweifle außerdem, dass Gomble seine Position aufs Spiel setzen würde. Nach sieben Jahren Knast hat er es jetzt recht angenehm. Hübscher Job mit einem hübschen kleinen Büro. Angeblich ist er für die Belieferung der Gefängniskantine zuständig. Er hat jetzt eine Einzelzelle und seinen eigenen Fernseher. Ich kann keinen Grund erkennen, weshalb er mit einem gesuchten Mann kommunizieren und das alles aufs Spiel setzen sollte.«
»Okay, Rachel«, sagte Backus. »Sonst noch etwas?«
»Das war’s, Bob.«
Alle schwiegen für ein paar Augenblicke und überdachten, was bisher gesagt worden war.
»Und damit kommen wir endlich zum psychologischen Modell«, sagte Backus. »Brass?«
Alle Augen wandten sich dem Telefon auf dem Tisch zu.
»Also, das Profil bildete sich langsam heraus, und gerade im Moment fügt Brad noch etliche neue Details hinzu. Es könnte sich um eine der Situationen handeln, wo der Täter zu dem Mann zurückkehrt, der ihn missbrauchte und damit die abartigen Fantasien nährte, nach denen zu handeln er sich später, als Erwachsener, gedrängt fühlte.
Es ist eine Variante des Vatermord-Modells, das uns schon öfter begegnet ist. Wir konzentrieren uns fast ausschließlich auf die Vorgänge in Florida. Wir sehen einen Täter, der es auf seinen Nachfolger abgesehen hat. Das heißt, auf den Jungen Gabriel Ortiz, der damals der Liebling von Clifford Beltran war, der Vaterfigur, die ihn erst missbraucht und dann verstoßen hatte. Möglicherweise ist es das Gefühl, verstoßen worden zu sein, das den Täter zu seinen gesamten Taten motivierte.
Gladden brachte das Objekt der damaligen Zuneigung seines Missbrauchers um, dann kehrte er zurück und tötete den Missbraucher selbst. Für mich sieht es aus wie eine Art Exorzismus, man könnte vielleicht auch sagen, eine Art kathartische Anwandlung, die Ursache von allem, was in seinem Leben falsch gelaufen ist, zu eliminieren.«
Es folgte eine lange Stille, und ich hatte den Eindruck, dass Backus und die anderen darauf warteten, dass Brass weitersprach. Doch schließlich ergriff Backus das Wort.
»Und dann, wollen Sie damit wohl sagen, hat er das Verbrechen ständig wiederholt.«
»So ist es«, sagte Brass. »Er tötet seinen Missbraucher, Beltran, immer und immer wieder. Auf diese Weise gewinnt er seinen inneren Frieden. Aber dieser Friede hält natürlich nicht lange vor. Er muss abermals töten. Die anderen Opfer - die Detectives - sind Unschuldige. Sie haben nichts weiter getan als ihren Job, und trotzdem hat er sie umgebracht.«
»Was ist mit den Ködermorden in den anderen Städten?«, fragte Thorson. »Sie passen nicht alle in das Schema des ersten Mordes.«
»Ich glaube nicht, dass die Ködermorde noch so wichtig sind«, sagte Brass. »Wichtig ist vielmehr, dass er einen Detective aufs Korn nimmt, einen guten Detective, einen beachtlichen Gegner. Damit riskiert er eine Menge, und das verschafft ihm die Katharsis, die er braucht. Was die Ködermorde angeht, so kann es durchaus sein, dass sie sich zu einer Art Mittel zum Zweck entwickelt haben. Er benutzt die Kinder, um Geld zu verdienen. Die Fotos.«
Nach der Hochstimmung, in der sich alle Anwesenden angesichts des großen Durchbruchs befunden hatten, ergriff jetzt Niedergeschlagenheit von ihnen Besitz. Es war das Wissen um den unsäglichen Horror in der Welt. Gladden war nur ein Fall unter vielen. Es würde immer wieder andere geben. Immer.
»Bleiben Sie dran, Brass«, sagte Backus
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