Jack McEvoy 01 - Der Poet
verlieren, wie blödsinnig das war. Mein Bruder hatte Selbst mord begangen, und Wexler versuchte trotzdem noch, den Schaden zu begrenzen, den sein Image womöglich erleiden wür de, wenn bekannt wurde, dass er ein Medium aufgesucht hatte.
»Es bleibt unter uns«, sagte ich stattdessen. Und nach kurzem Schweigen fügte ich hinzu: »Wie sieht denn nun Ihre Theorie über das aus, was an jenem Tag geschehen ist, Wex? Inoffiziell natürlich.«
»Meine Theorie? Meine Theorie ist, dass er dort hinfuhr und dass derjenige, der ihn angerufen hat, nicht erschienen ist. Wieder einmal eine Sackgasse, und das gab ihm den Rest. Deshalb fuhr er zu dem See hinauf und ... Haben Sie vor, eine Story über ihn zu schreiben?«
»Ich weiß es noch nicht. Vermutlich.«
»Hören Sie, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, aber ... Er war Ihr Bruder, aber er war auch mein Freund. Vielleicht habe ich ihn sogar besser gekannt als Sie. Lassen Sie die Finger davon.«
Ich sagte, ich würde darüber nachdenken, aber das tat ich nur, um ihn zu beschwichtigen. Mein Entschluss stand bereits fest. Ich warf einen Blick auf meine Uhr, um mich zu vergewissern, dass ich noch genügend Zeit hatte, vor Einbruch der Dunkelheit zum Estes Park hinauszufahren, und ging.
6
Es war bereits nach fünf Uhr, als ich den Parkplatz am Bear Lake erreichte. Auch an diesem Tag stand kein Auto dort. Der See war gefroren, und die Temperatur sank rasch. Der Himmel hatte sich bereits purpurn gefärbt und begann zu dunkeln. So spät am Tag war dies kein Ort, der Einheimische oder Touristen anzog.
Als ich über den Parkplatz fuhr, fragte ich mich, weshalb er sich für diesen Ort entschieden hatte. Soweit ich wusste, stand er in keinerlei Beziehung zum Fall Lofton. Aber ich glaubte den Grund zu kennen. Ich parkte dort, wo auch er geparkt hatte. Dann saß ich einfach da und dachte nach.
Unter dem Vordach der Ranger-Hütte brannte Licht. Ich beschloss, auszusteigen und nachzusehen, ob Pena, der Zeuge, noch da war. Doch plötzlich kam mir ein anderer Einfall. Ich glitt auf den Beifahrersitz, öffnete die Tür, holte ein paar Mal tief Luft und begann, auf die Stelle zuzurennen, an der der Wald dem Wagen am nächsten war. Im Laufen zählte ich laut nach Tausendern. Als ich die Schneemauer überwunden hatte und in Deckung gegangen war, war ich bei elftausend angekommen.
Ich beugte mich vor und stützte die Hände auf die Knie, um wieder zu Atem zu kommen, bis zu den Waden im Schnee eingesunken. Es war ausgeschlossen, dass ein Schütze ungesehen im Wald hätte verschwinden können, falls Pena so schnell aus der Hütte gekommen war, wie er ausgesagt hatte.
Nach einer Weile konnte ich wieder normal atmen und machte mich auf den Weg zur Hütte. Dabei überlegte ich, wie ich mit ihm reden sollte. Als Reporter oder als Bruder?
Der Mann, der hinter der Scheibe saß, war Pena. Ich konnte das Namensschild an seiner Uniform erkennen. Er war gerade dabei, seinen Schreibtisch abzuschließen. Offenbar wollte er Feierabend machen.
»Kann ich Ihnen helfen? Ich bin gerade beim Abschließen.«
»Ja. Könnten Sie mir ein paar Fragen beantworten?« Er kam heraus und musterte mich argwöhnisch, weil ich für eine Wanderung durch den Schnee offensichtlich nicht richtig angezogen war. Ich trug Jeans und Reeboks und ein Cordhemd unter einem dicken Wollpullover. Meinen Mantel hatte ich im Wagen gelassen, und mir war sehr kalt.
»Ich heiße Jack McEvoy.«
Ich wartete einen Moment, ob der Name ihm etwas sagte.
Das tat er nicht. Wahrscheinlich hatte er ihn nur in den Berich ten gelesen, die er unterschreiben musste, oder in der Zeitung.
»Mein Bruder ... Sie haben ihn vor ein paar Wochen gefun den.«
Ich deutete auf den Parkplatz.
»Ach ja«, sagte er. »In dem Wagen. Der Polizist.«
»Ja. Ich war heute im Präsidium und habe mir die Berichte und all den anderen Kram angesehen. Danach hatte ich einfach das Bedürfnis, herzukommen und mir den Ort anzuschauen. Es ist schwer, wissen Sie ... damit fertig zu werden.«
Er nickte und sah dabei heimlich auf die Uhr.
»Ich habe nur ein paar kurze Fragen. Sie waren hier drinnen, als Sie den Schuss hörten?«
»Ja«, sagte er. Er zögerte, als ob er einen Entschluss fassen wollte.
Dann fuhr er fort: »Ich war gerade beim Abschließen, genau wie heute. Im Begriff, heimzugehen. Dann hörte ich ihn. Irgendwie wusste ich, was er bedeutete, warum, weiß ich nicht. Nahm an, dass es Wilderer waren, die es auf die Hirsche abgesehen hatten. Ich lief
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