Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jack McEvoy 01 - Der Poet

Jack McEvoy 01 - Der Poet

Titel: Jack McEvoy 01 - Der Poet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Connelly
Vom Netzwerk:
»Ich verstehe. Ich habe nur noch eine einzige Frage. Dann halte ich dich aus der Sache heraus.«
    »Wie meinst du das, du hältst mich heraus?«, fragte sie wütend. »Ich wollte, es gäbe eine Möglichkeit, mich herauszuhalten. Aber ich stecke mittendrin! Den Rest meines Lebens stecke ich drin. Du willst darüber schreiben? Du glaubst, das ist für dich ein Weg, es loszuwerden. Aber was soll ich tun, Jack?«
    Ich betrachtete den Fußboden. Ich wollte gehen, wusste aber nicht, wie ich es anstellen sollte. Ihr Schmerz und ihre Wut strahlten mir entgegen wie die Hitze eines Backofens.
    »Du willst etwas über dieses Mädchen wissen«, sagte sie nach einer Weile mit gelassenerer Stimme. »Danach haben mich sämtliche Detectives gefragt.«
    »Ja. Warum hat gerade dieser ...«
    Ich wusste nicht, wie ich meine Frage formulieren sollte.
    »Weshalb ausgerechnet diese Sache dazu geführt hat, dass alles Positive in seinem Leben keinen Wert mehr hatte? Die Antwort lautet, ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht.«
    Ich konnte sehen, wie sich ihre Augen erneut mit Wut und Tränen füllten. Es war, als hätte ihr Mann sie wegen einer anderen Frau verlassen. Und hier saß ich, in Fleisch und Blut Sean am allerähnlichsten. Kein Wunder, dass sich ihre Wut und ihre Tränen gegen mich richteten.
    »Hat er zu Hause über den Fall gesprochen?«, fragte ich.
    »Nicht speziell. Er hat mir von Zeit zu Zeit von seinen Fällen erzählt. Dieser schien nicht anders zu sein, abgesehen davon, was der Killer ihr angetan hat. Er hat mir erzählt, dass er sie ansehen musste. Hinterher, meine ich. Ich wusste, dass es ihm schwer zu schaffen machte, aber ihm machten viele Dinge schwer zu schaffen. Eine Menge Fälle. Er wollte nicht, dass irgendein Täter damit durchkam. Das hat er immer gesagt.«
    »Aber diesmal ist er zu einem Psychiater gegangen.«
    »Er hatte schlimme Träume, deshalb habe ich ihm dazu geraten. Ich habe ihn hingeschickt.«
    »Was waren das für Träume?«
    »Dass er dabei war. Du weißt schon, als ihr das angetan wurde. Er träumte, dass er es mitansah, aber nichts dagegen unternehmen konnte.«
    Ihre Worte erinnerten mich an einen anderen Tod vor langer Zeit. Sarah, die im Eis einbrach. Ich erinnerte mich an das hilflose Gefühl. Wie ich zugeschaut hatte und nichts dagegen unternehmen konnte. Ich sah Riley an.
    »Weißt du, weshalb Sean dort hinaufgefahren ist?«
    »Nein.«
    »War es wegen Sarah?«
    »Ich habe doch gesagt, ich weiß es nicht.«
    »Es ist passiert, bevor wir dich kennen lernten. Sie ist dort ge storben. Ein Unfall...«
    »Ich weiß, Jack. Aber ich weiß nicht, ob es mit irgendetwas zu tun hatte. Noch nicht.«
    Ich wusste es auch nicht. Es war nur einer von vielen verwor renen Gedanken, aber ich konnte ihn nicht beiseiteschieben.
    Vor der Rückfahrt nach Denver fuhr ich noch zum Friedhof. Ich weiß nicht, warum ich das tat. Es war dunkel, und seit der Beerdigung war zweimal Schnee gefallen. Ich brauchte fünfzehn Minuten, um die Stelle zu finden, an der Sean in der Erde lag. Es gab noch keinen Stein. Ich fand das Grab, indem ich das neben seinem ausfindig machte. Das meiner Schwester.
    Auf dem von Sean standen ein paar Töpfe mit erfrorenen Pflanzen, und aus dem Schnee ragte ein Plastiketikett mit sei nem Namen heraus. Auf Sarahs Grab waren keine Blumen. Es war ein klarer Abend, und der Mond gab genügend Licht. Mein Atem bildete kleine Wolken vor meinem Mund.
    »Warum, Sean?«, fragte ich. »Warum?«
    Als mir bewusst wurde, dass ich laut gesprochen hatte, sah ich mich um. Ich war der einzige Mensch auf dem Friedhof. Der einzige lebende. Ich dachte an das, was Riley gesagt hatte. Dass Sean nicht wollte, dass ein Täter mit etwas durchkam. Und ich dachte auch daran, dass mir solche Dinge völlig gleichgültig waren, solange ich eine gute, lange Story daraus machen konnte. Wie kam es, dass wir so unterschiedliche Wege gegangen waren? Mein Bruder und ich. Mein Zwillingsbruder. Ich wusste es nicht. Es machte mich einfach traurig.
    Ich erinnerte mich daran, was Wexler an jenem Abend gesagt hatte, als sie mich abholten und mir mitteilten, dass mein Bruder tot war. Er hatte von all der Scheiße gesprochen, die aus dem Rohr kommt, und dass es Sean schließlich zu viel geworden war. Ich glaubte es immer noch nicht. Aber irgendetwas musste ich glauben. Ich dachte an Riley und an die Fotos von Theresa Lofton. Und ich dachte an meine Schwester, die durch das Eis ins Wasser fiel. Damals glaubte ich, dass der Mord an dem

Weitere Kostenlose Bücher