Jack McEvoy 01 - Der Poet
geschrieben war, wer die besseren Informationen hatte. Ich gab beileibe nicht immer der Rocky die Palme. Das tat ich sogar nur höchst selten. Ich arbeitete mit ein paar ausgemachten Arschlöchern zusammen und hatte nichts dagegen, wenn ihnen die Post einen Tritt in den Hintern versetzte. Aber das würde ich nie laut sagen. Es lag in der Natur unserer Branche und der Konkurrenz. Wir konkurrierten mit der anderen Zeitung, wir konkurrierten untereinander. Für einige der jüngeren Reporter war ich beinahe eine Art Held - ich hatte lange Storys, Talent und ein spezielles Ressort. Für andere war ich wiederum nichts als ein erbärmlicher Schreiberling mit einem unverdient gemütlichen Job. Ein Dinosaurier. Sie hätten mich gern abgeschossen. Aber das war okay. Das verstand ich. Wenn ich in ihrer Position gewesen wäre, hätte ich vermutlich dasselbe gesagt.
Die Zeitungen von Denver lieferten den größeren Tageszeitungen in New York, Los Angeles, Chicago und Washington den Stoff. Ich hätte Denver wahrscheinlich schon vor langer Zeit den Rücken kehren sollen, und vor ein paar Jahren hatte ich sogar ein Angebot der Los Angeles Times bekommen - und abgelehnt. Aber nicht, bevor ich es als Druckmittel bei Glenn benutzt hatte, um mein Mordressort zu bekommen. Er glaubte, das Angebot bezöge sich auf einen tollen Job als Polizeireporter. Ich sagte ihm nicht, dass es sich um einen Job bei einer Vorstadt-Beilage, der so genannten Valley Edition, handelte. Er erbot sich, das Mordressort für mich zu schaffen, wenn ich bliebe. Manchmal glaube ich, einen Fehler gemacht zu haben, indem ich Glenns Angebot annahm. Vielleicht würde es mir gut tun, wenn ich irgendwo einen neuen Anfang wagte.
Ich legte die Zeitungen beiseite und griff nach dem Computerausdruck. Laurie Prine hatte in Zeitungen von der Ostküste mehrere Artikel gefunden, die die Pathologie von Polizisten- Selbstmorden eingehend analysierten, und eine Hand voll kleinerer Berichte über einzelne Selbstmorde überall im Lande. Sie war so rücksichtsvoll gewesen, den Artikel aus der Denver Post über meinen Bruder nicht mit auszudrucken.
Die meisten der längeren Artikel betrachteten Selbstmorde als ein Jobrisiko, das mit der Polizeiarbeit einherging. Jeder Journalist begann mit dem Selbstmord eines bestimmten Cops und steuerte die Story dann in eine Diskussion mit Psychiatern und Polizeiexperten, in der es darum ging, was Cops dazu brachte, sich das Lebenslicht auszublasen. Sämtliche Storys gelangten zu dem Schluss, dass zwischen dem Selbstmord von Polizisten, Stress bei der Arbeit und einem traumatischen Erlebnis des Opfers ein kausaler Zusammenhang bestand.
Die Artikel waren deshalb wertvoll, weil in ihnen die Experten benannt wurden, die ich für meine eigene Story brauchen würde. Und in mehreren von ihnen wurde eine vom FBI gesponserte und noch laufende Untersuchung über Polizisten-Selbstmorde durch die Law Enforcement Foundation in Washington, D. C., erwähnt. Das strich ich an, weil ich glaubte, die neuesten Statistiken vom FBI oder der Foundation könnten dazu beitragen, meiner Story Frische und Glaubwürdigkeit zu verleihen.
Das Telefon läutete. Es war meine Mutter. Wir hatten seit der Beerdigung nicht mehr miteinander gesprochen. Nach ein paar einleitenden Fragen über meinen Urlaub und wie es mir ging, kam sie zur Sache.
»Riley hat mir erzählt, dass du vorhast, über Sean zu schreiben.«
Das war keine Frage, aber ich antwortete, als sei es eine gewesen.
»Ja, das habe ich vor.«
»Warum, John?«
Sie war die Einzige, die mich John nannte.
»Weil ich es tun muss. Ich ... kann nicht einfach so tun, als sei es nicht passiert. Ich muss zumindest versuchen, es zu verstehen.«
»Als Kind hast du immer alles in einzelne Bestandteile zerlegt. Erinnerst du dich? An all die Spielsachen, die du kaputtgemacht hast?«
»Wovon redest du, Mom? Das ist...«
»Was ich damit sagen will, ist, wenn du Dinge in ihre Bestandteile zerlegst, kannst du sie nicht immer wieder zusammensetzen. Und was hast du dann? Nichts, Johnny, du hast dann überhaupt nichts.«
»Mom, du redest Unsinn. Hör zu, ich muss einfach schreiben.«
Mir war nicht klar, weshalb ich immer so schnell wütend wurde, wenn ich mit ihr sprach.
»Hast du dabei außer an dich selbst auch mal an andere Leute gedacht? Weißt du, dass du Menschen wehtust, wenn du das in die Zeitung bringst?«
»Meinst du Dad? Vielleicht hilft es ihm sogar.«
Es folgte ein langes Schweigen, und ich stellte mir vor, wie
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