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Jack McEvoy 01 - Der Poet

Jack McEvoy 01 - Der Poet

Titel: Jack McEvoy 01 - Der Poet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Connelly
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sie am Küchentisch saß, mit geschlossenen Augen und dem Hörer am Ohr. Mein Vater saß vermutlich mit am Tisch und fürchtete sich davor, mit mir darüber zu reden.
    »Hast du eine Ahnung gehabt?«, fragte ich leise. »Oder Dad?«
    »Natürlich nicht«, sagte sie traurig. »Niemand hat es gewusst.«
    Erneutes Schweigen. Dann brachte sie ein letztes Mal ihre Bitte vor. »Denk noch einmal darüber nach, John. Über so etwas kommt man im Stillen besser hinweg.«
    »Wie bei Sarah?«
    »Wie meinst du das?«
    »Ihr habt nie darüber gesprochen ... habt nie mit mir darüber gesprochen.«
    »Ich kann jetzt nicht darüber reden.«
    »Das hast du noch nie gekonnt. Schließlich ist es erst zwanzig Jahre her.«
    »Mach nicht solche sarkastischen Bemerkungen darüber.«
    »Tut mir Leid. Ich bemühe mich, nicht sarkastisch zu sein.«
    »Denk einfach über das nach, worum ich dich gebeten habe.«
    »Das werde ich tun«, sagte ich. »Ich melde mich wieder.«
    Sie legte auf. Vermutlich war sie so wütend auf mich, wie ich auf sie. Es ärgerte mich, dass sie nicht wollte, dass ich über Sean schrieb. Es war fast so, als ob sie ihn immer noch bevorzugte und ihn beschützen wollte. Doch er war fort. Ich hingegen war noch da.
    Ich reckte meinen Hals, bis ich über die Trennwand der Nische hinwegschauen konnte, in der mein Schreibtisch stand.
    Der Redaktionssaal begann sich zu füllen. Glenn hatte sein Büro verlassen und sprach mit dem Morgenredakteur über die Berichterstattung über das Attentat auf den Abtreibungsarzt. Ich sackte schnell auf meinem Stuhl zusammen, damit sie mich nicht sahen und womöglich auf die Idee kamen, mir das Umschreiben aufzudrücken. Ich versuchte immer, mich vor dieser Arbeit zu drücken. Sie schickten einen Haufen Reporter zum Schauplatz eines Verbrechens oder einer Katastrophe, und diese Leute gaben mir telefonisch ihre Informationen durch. Dann musste ich die Story bis Redaktionsschluss schreiben und darüber entscheiden, welche Namen darüber stehen sollten. Es war der hektischste und gleichzeitig der intensivste Job in der Branche, aber ich hatte die Nase voll davon. Ich wollte nur meine Storys über Morde schreiben und in Ruhe gelassen werden.
    Ich hätte mich beinahe mit meinen Unterlagen in die Cafeteria verzogen, um außer Sichtweite zu sein, aber dann beschloss ich, das Risiko einzugehen.
    Ich kehrte zu meiner Lektüre zurück. Der beeindruckendste Artikel war vor fünf Monaten in der New York Times erschienen. Das war nicht weiter überraschend. Die Times war der heilige Gral des Journalismus. Die beste Zeitung. Ich las den Artikel an und legte ihn dann beiseite, um ihn mir bis zuletzt aufzusparen. Nachdem ich das restliche Material gelesen oder überflogen hatte, machte ich mich wieder an die Lektüre des Ti mes-Artikels. Ich ließ mir viel Zeit.
    Als Aufhänger hatte der Journalist drei anscheinend in keinerlei Zusammenhang stehende Selbstmorde von New Yorker Polizisten im Laufe von sechs Wochen gewählt. Die Opfer hatten einander nicht gekannt, aber alle erlagen dem »Polizei- Blues«, wie es in dem Artikel genannt wurde. Zwei erschossen sich zu Hause mit ihrer Dienstwaffe, einer erhängte sich in einem Fixerraum, unter den fassungslosen Augen von sechs zugedröhnten Junkies. Der Artikel berichtete ausführlich über die noch laufende Untersuchung über Polizisten-Selbstmorde, die von den Behavioral Science Services des FBI in Quantico, Virginia, und der Law Enforcement Foundation gemeinschaftlich angestellt wurde. Der Artikel zitierte Nathan Ford, den Direktor der Foundation, und bevor ich weiterlas, notierte ich seinen Namen. Ford sagte, bei diesem Projekt seien sämtliche gemeldeten Polizisten-Selbstmorde im Laufe der letzten fünf Jahre auf Ähnlichkeiten hin untersucht worden. Im Grunde liefe es darauf hinaus, dass man unmöglich Vorhersagen könne, wer möglicherweise dem Polizisten-Blues erliegen würde. Aber wenn er einmal diagnostiziert worden war, konnte er behandelt werden, sofern ein darunter leidender Polizist um Hilfe bat. Ford sagte weiterhin, Ziel des Projekts sei es, eine Datenbank aufzubauen, die es den Polizeiführungsstäben ermöglichte, Mitarbeiter mit dem Polizisten-Blues zu erkennen, bevor es zu spät war.
    Zu dem Artikel in der Times gehörte eine Begleitstory über einen ein Jahr zurückliegenden Fall in Chicago, bei dem ein Polizist professionelle Hilfe gesucht hatte, aber trotzdem nicht gerettet worden war. Während ich sie las, krampfte sich mein Magen zusammen.

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