Jack McEvoy 01 - Der Poet
Dort stand, dass der Chicagoer Police Detective John Brooks einen Psychiater aufgesucht hatte, weil ihm ein spezieller, ihm zugewiesener Mordfall zu schaffen machte. Es ging um die Entführung und Ermordung eines zwölfjährigen Jungen namens Bobby Smathers. Der Junge wurde bereits seit zwei Tagen vermisst, als man seine Überreste auf einem Schneehaufen in der Nähe des Lincoln Park Zoos fand. Er war erwürgt worden. Acht seiner Finger fehlten.
Eine Autopsie ergab, dass die Finger abgetrennt worden waren, bevor der Junge starb. Das und die Tatsache, dass es ihm nicht gelang, den Killer zu schnappen, war offensichtlich mehr, als Brooks verkraften konnte.
Mr. Brooks, ein hoch geschätzter Ermittler, nahm den Tod des frühreifen, braunäugigen Jungen ungewöhnlich schwer. Nachdem Vorgesetzte und Kollegen festgestellt hatten, dass seine Arbeit darunter litt, trat er einen vierwöchigen Urlaub an und begab sich bei Dr. Ronald Cantor, der ihm von einem Psychologen der Polizei von Chicago empfohlen worden war, in intensive psychiatrische Behandlung.
Zu Beginn der Behandlung sprach Brooks Dr. Cantor zufolge ganz offen von seinen Selbstmordgedanken und sagte, er würde von Träumen über den vor Qualen schreienden Jungen geplagt.
Nach zwanzig therapeutischen Sitzungen in einem Zeitraum von vier Wochen war Dr. Cantor damit einverstanden, dass der Detective zu seiner Arbeit bei der Mordkommission zurückkehrte. Allen Berichten zufolge hatte er keinerlei Probleme mehr und bearbeitete und löste mehrere neue Mordfälle. Freunden erzählte er, dass seine Albträume verschwunden seien.
Mr. Brooks, wegen seines Übereifers >Jumpin’ John< genannt, setzte letzten Endes sogar seine fruchtlose Suche nach dem Killer von Bobby Smathers fort.
Aber irgendwann im Laufe des kalten Chicagoer Winters schien sich etwas geändert zu haben. Am 13. März - dem Tag, an dem Bobby Smathers dreizehn Jahre alt geworden wäre - saß Mr. Brooks in seinem Lieblingssessel im Arbeitszimmer, wo er gern Gedichte verfasste, um sich von seinem Job bei der Mordkommission abzulenken. Er hatte mindestens zwei Tabletten Percocet eingenommen, die noch von der Behandlung einer Rückenverletzung im Vorjahr übrig geblieben waren. Er schrieb eine einzelne Zeile in sein Gedichtheft. Dann steckte er den Lauf seines .38er Special in den Mund und drückte ab. Er wurde von seiner Frau gefunden, als sie von der Arbeit heimkehrte.
Der Tod von Mr. Brooks hat seine Angehörigen und Freunde tief getroffen und viele Fragen aufgeworfen. Was hätten sie unternehmen können ? Wo hatte es Anzeichen gegeben, die ihnen entgangen waren? Cantor schüttelte betrübt den Kopf, als er bei einem Interview gefragt wurde, ob es Antworten auf diese qualvollen Fragen gäbe.
»Das Denken ist eine seltsame, unvorhersehbare und manchmal furchtbare Sache«, sagte der Psychiater in seiner Praxis. »Ich glaubte, dass John mit mir sehr weit gekommen war. Aber doch nicht weit genug.«
Mr. Brooks, und was immer ihn gequält haben mag, bleiben ein Rätsel. Sogar seine letzte Botschaft ist rätselhaft. Die Zeile, die er in das Heft schrieb, liefert keinerlei Aufschlüsse darüber, weshalb er seine Waffe gegen sich selbst richtete.
>Durch des Tores fahlen Bogen< waren seine letzten schriftlichen Worte. Die Zeile stammte nicht von ihm. Mr. Brooks hatte sie von Edgar Allan Poe entliehen. In seinem Gedicht >Das verzauberte Schloss<, das in einer von Poes bekanntesten Erzählungen, >Der Untergang des Hauses Usher<, enthalten ist, hat Poe geschrieben:
Wie gespenst’gen Flusses Wogen
durch des Tores fahlen Bogen
drängt sich jetzt ein widrig Heer,
Lachen - doch kein Lächeln mehr.
Was diese Worte für Mr. Brooks bedeuteten, ist unklar, aber aus ihnen spricht ganz eindeutig die mit seiner letzten Tat einhergehende Melancholie.
Der Mord an Bobby Smathers ist nach wie vor unaufgeklärt. In der Mordkommission, in der Mr. Brooks arbeitete und in dem seine Kollegen den Fall weiterverfolgen, sagen die Detectives, sie müssten jetzt zwei Opfern Gerechtigkeit widerfahren lassen.
»Meiner Meinung nach ist das ein Doppelmord«, erklärte Lawrence Washington, ein Detective, der mit Brooks aufgewachsen ist und sein Partner war. »Wer immer den Jungen umgebracht hat, der hat auch John umgebracht. Das lasse ich mir nicht ausreden.«
Ich richtete mich auf und ließ den Blick über den Redaktionssaal schweifen. Niemand schaute in meine Richtung. Ich beugte mich wieder über den Ausdruck und las den Schluss
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