Jack McEvoy 01 - Der Poet
der Story noch einmal. Ich war wie betäubt, fast so wie an dem Abend, an dem Wexler und St. Louis mich abgeholt hatten.
Ich hörte mein Herz schlagen, spürte einen kalten, quetschenden Griff um meine Eingeweide. Ich starrte wie gebannt auf den Titel der Erzählung. Usher. Ich hatte sie auf der High School gelesen und dann noch einmal auf dem College. Und ich wusste, wie die Hauptfigur hieß. Roderick Usher.
Ich schlug mein Notizheft auf und betrachtete die paar Namen, die ich mir am Vortag nach meinem Besuch bei Wexler aufgeschrieben hatte. Der Name stand da. Sean hatte ihn in seinem chronologischen Bericht festgehalten. Es war sein letzter Eintrag.
RUSHER
Ich wählte die Nummer der Redaktionsbibliothek und fragte nach Laurie Prine.
»Laurie, hier ist...«
»Jack. Ja, ich weiß.«
»Hören Sie, ich brauche ganz dringend eine Recherche. Das heißt, es ist eher eine Suche. Ich weiß nicht, wie ...«
»Worum geht es, Jack?«
»Edgar Allan Poe. Haben wir etwas über ihn?«
»Natürlich. Ich bin sicher, wir haben massenhaft Kurzbiografien. Ich könnte ...«
»Ich meine, haben wir irgendwelche von seinen Erzählungen oder sonstigen Werken? Ich suche nach dem »Untergang des Hauses Usher<. Und entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbrochen habe.«
»Das macht nichts. Aber ich weiß nicht, ob wir das haben, was Sie suchen. Ich sagte es bereits, das meiste ist biografisch. Ich kann natürlich nachschauen. Ansonsten bekommen Sie seine Werke bestimmt in jeder Buchhandlung.«
»Okay, danke. Ich laufe gleich hinüber zum Tattered Cover.«
Ich wollte schon den Hörer auflegen, als sie mich noch einmal ansprach.
»Ja?«
»Mir ist gerade etwas eingefallen. Für den Fall, dass jemand eine Zeile oder so zitieren möchte, haben wir hier eine CD- ROM mit Zitaten. Die könnte ich schnell einlegen.«
»Okay. Tun Sie das bitte.«
Sie legte für eine Ewigkeit den Hörer beiseite. Ich las den Schluss des Times-Artikels noch einmal. Was ich dachte, schien ziemlich weit hergeholt, aber die Übereinstimmungen in der Art, wie mein Bruder und Brooks gestorben waren, und in den Namen Roderick Usher und RUSHER konnte ich nicht ignorieren.
»Okay, Jack«, sagte Laurie schließlich. »Ich habe gerade in unseren Registern nachgeschaut. Wir haben die Werke von Poe nicht in Buchform hier. Aber ich habe jetzt eine Diskette mit seinen Gedichten eingelegt, also schießen Sie los. Was suchen Sie?«
»Es gibt ein Gedicht mit dem Titel >Das verzauberte Schloss<. Es findet sich in der Erzählung >Der Untergang des Hauses Usher<. Können Sie das finden?« Sie antwortete nicht.
Ich hörte sie tippen.
»Okay, ja, hier sind mehrere Zitate aus der Erzählung und dem Gedicht. Drei Seiten.«
»Okay, gibt es da eine Zeile, die >jenseits von Raum, jenseits von Zeit< lautet?«
»Jenseits von Raum, jenseits von Zeit.«
»Richtig. Die Zeichensetzung weiß ich nicht.«
»Das macht nichts.«
Sie tippte.
»Äh, nein, das stammt nicht aus ...«
»Verdammt!«
Ich weiß nicht, weshalb ich so herausplatzte. Es tat mir sofort Leid.
»Aber, Jack, es ist aus einem anderen Gedicht.«
»Was? Auch von Poe?«
»Ja. Es steht in einem Gedicht, das >Traumland< heißt. Soll ich es Ihnen vorlesen? Ich habe hier die ganze Strophe.«
»Lesen Sie vor.«
»Okay, ich bin nicht besonders gut im Vortragen von Gedichten, aber bitte. >Auf einem Wege, finster, einsam / heimgesucht von bösen Engeln / wo ein Eidolon DIE NACHT / übt auf schwarzem Throne Macht / fand aus fernstem, düstrem Thule / jüngst erst her ich in dies Land / aus einer Gegend wild und weit, / jenseits von RAUM, jenseits von ZEIT.< Das war’s. Aber hier ist noch ein Vermerk des Herausgebers. Er sagt, ein Eidolon ist ein Phantom.«
Ich sagte nichts.
»Jack?«
»Bitte, lesen Sie es noch einmal vor. Aber langsamer.« Ich schrieb die Strophe in mein Notizheft. Ich hätte sie genauso gut bitten können, sie mir auszudrucken. Und ich hätte sie abholen können. Aber ich wollte in diesem kurzen Moment völlig allein damit sein. Ich konnte nicht anders.
»Jack, was bedeutet das?«, fragte sie, als sie mit dem Vorlesen fertig war. »Ihnen scheint sehr viel daran zu liegen.«
»Das weiß ich noch nicht. Ich melde mich wieder.«
Ich legte den Hörer auf. In Sekundenschnelle wurde mir furchtbar heiß, und ich bekam Platzangst. Es kam mir vor, als drängten die Wände ringsum auf mich ein. Mein Herz hämmerte. Eine Vision von meinem Bruder in seinem Wagen flammte vor meinem inneren Auge auf.
Glenn
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