Jack McEvoy 01 - Der Poet
Dann würde er vielleicht am Morgen entlassen werden, ohne das Anwaltshonorar und fünfzigtausend Dollar Kaution aufbringen zu müssen.
Doch er kam zu dem Schluss, dass es zu riskant war. Gladden beschloss, sich lieber auf Krasner zu verlassen. Schließlich hatte er seinen Namen aus dem Netzwerk. Der Anwalt musste wissen, was er tat. Trotzdem machten ihm die sechstausend zu schaffen. Er wurde vom juristischen System erpresst. Sechstausend wofür? Was hatte er denn verbrochen?
Seine Hand wollte eine Zigarette aus der Tasche ziehen, aber dann erinnerte er sich, dass man sie ihm weggenommen hatte. Das ließ seine Wut noch weiter steigen.
Und sein Selbstmitleid. Er wurde von der Gesellschaft verfolgt, und weshalb? Er hatte sich seine Instinkte und Begierden schließlich nicht ausgesucht. Weshalb konnten sie das nicht begreifen?
Gladden wünschte, er hätte seinen Laptop bei sich. Er wollte sich einklinken und mit den Leuten im Netzwerk reden. Denen, die genauso waren wie er. Er fühlte sich einsam in der Zelle. Er hätte womöglich sogar geweint, wenn da nicht der Mann auf der anderen Seite gewesen wäre, der ihn beobachtete. Vor ihm würde er nicht weinen.
8
Ich schlief nicht gut nach jenem Tag mit den Akten. Ich musste immer wieder an die Fotos denken. Zuerst an die von Theresa, dann an die von meinem Bruder. Beide für alle Zeiten in grauenhaften Posen festgehalten, in Umschlägen abgelegt. Ich hätte die Fotos am liebsten gestohlen und dann verbrannt. Ich wollte nicht, dass sie jemand noch einmal betrachtete.
Nachdem ich am nächsten Morgen Kaffee gemacht hatte, schaltete ich meinen Computer ein und wählte das System der Rocky an, um festzustellen, ob irgendwelche Nachrichten für mich Vorlagen. Während ich darauf wartete, dass die Verbindung zu Stande kam, aß ich ein paar Cheerios aus der Schachtel. Mein Laptop und mein Drucker standen auf dem Esszimmertisch, weil ich häufig aß, während ich daran arbeitete. Das war besser, als allein am Tisch zu sitzen und darüber nachzudenken, dass ich schon viel länger allein gegessen hatte, als mir lieb war.
Ich hatte eine kleine Wohnung, seit neun Jahren mit demselben Mobiliar. Sie war nicht schlecht, aber auch nichts Besonderes. Abgesehen von Sean konnte ich mich nicht erinnern, wer mein letzter Besucher gewesen war. Eine Frau nahm ich nie mit dorthin. Es waren ohnehin nicht viele Frauen gewesen.
Als ich einzog, hatte ich gedacht, ich würde nur ein oder zwei Jahre bleiben, mir dann vielleicht ein Haus kaufen und heiraten oder mir einen Hund oder sonst etwas anschaffen. Aber dazu war es nicht gekommen, und ich weiß nicht recht, warum nicht. Wegen des Jobs vermutlich. Das jedenfalls redete ich mir ein. Ich konzentrierte meine ganze Energie auf meine Arbeit. In jedem Zimmer der Wohnung lagen Stapel von Zeitungen mit Storys von mir. Ich liebte es, sie von Zeit zu Zeit erneut zu lesen.
Auf dem Bildschirm erschienen nur zwei Nachrichten. Die neueste stammte von Greg Glenn, der fragte, wie ich vorankäme. Er hatte sie am Vorabend um halb sieben eingegeben. Das ärgerte mich; der Mann hatte am Montagmorgen sein Okay zu meinem Vorhaben gegeben, und am Montagabend wollte er bereits wissen, was ich erreicht hatte. »Wie kommen Sie voran?« war die Redakteur-Version von: »Wo bleibt die Story?«.
Der Teufel soll ihn holen, dachte ich. Ich schickte ihm eine kurze Antwort, teilte ihm mit, dass ich den Montag bei den Cops verbracht hatte und vom Selbstmord meines Bruders überzeugt war.
Nachdem ich das erledigt hatte, konnte ich damit anfangen, mich mit den Gründen für Polizisten-Selbstmorde und ihrer Häufigkeit zu beschäftigen.
Die vorher eingegangene Nachricht stammte nämlich von Laurie Prine in der Bibliothek. Sie war am Montag um halb fünf aufgegeben worden. Sie lautete nur: interessantes Zeug im Nexis. Liegt auf dem Tresen.<
Ich schickte ihr eine E-Mail, in der ich ihr für die schnelle Ar beit dankte und sagte, dass ich unvermutet in Boulder festgehalten worden sei, das Ergebnis ihrer Recherchen aber sobald wie möglich abholen würde. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich für mich interessierte, obwohl ich nie anders als auf beruflicher Ebene mit ihr verkehrt hatte. Man muss vorsichtig und sich seiner Sache sicher sein. Macht man erwünschte Annäherungsversuche, ist man cool. Macht man unerwünschte, handelt man sich eine Menge Ärger ein. Meiner Meinung nach tut man gut daran, sie überhaupt zu vermeiden.
Als Nächstes ließ ich die AP- und
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