Jack Morrow und das Grab der Zeit: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
scharfen Klicken hinter sich. Dicht aneinandergedrängt sahen sie sich rasch im Zimmer um. Sie befanden sich in einem Salon. Im Sommer, bei Tageslicht, mit aufgezogenen Vorhängen wäre es ein richtiges Gute-Laune-Zimmer gewesen, aber im dunklen Winter blieben davon nur gruselige Schatten übrig, die Bilder von mörderischen Phantomen heraufbeschworen.
Davey huschte zu einer halb geöffneten Tür, die offensichtlich weiter ins Haus führte, blieb geduckt stehen und lauschte. Jack glitt neben ihn und sah seinen bestürzten Gesichtsausdruck.
»Was ist los?«
»Stimmen«, sagte Davey leise, und Jack war sofort still. Trotzdem hörte er nichts.
»Jetzt«, flüsterte Davey und glitt durch die Tür. Jack lief ihm nach und fand sich in dem langen Flur wieder, der zu der großen Eingangshalle führte, die sie von der Straße aus gesehen hatten.
Davey bog wieder ab. Nun standen sie zum zweiten Mal im Lesezimmer des Hauses, nur hundertsiebenundzwanzig Jahre früher. Ob wohl im Kamin ein Feuer brannte, war der Raum dun kel; trotzdem war klar, dass die Einrichtung auf unheimliche Weise der vom ersten Mal ähnelte.
»Wir suchen nach einem Buch, richtig?« Davey nickte zu der kleinen Bibliothek in den vielen Regalen ringsherum.
»Ja. Wir brauchen mehr Licht.«
Davey entdeckte auf einem Eichentisch, der längs zu dem großen Aussichtsfenster stand, eine Lampe. Er zog seine Streichhölzer heraus und steckte den Docht an. Als die Lampe flackernd anging, zuckten beide Jungen heftig zusammen.
Sie waren nicht allein.
Am Tisch saß eine junge Frau, deren Gesichtsfarbe sich in die gespensterhafte Farbpalette der gefrorenen Außenwelt fügte. Ihre Haare waren von einem kräftigen Kupferrot und straff von ihrem Porzellangesicht nach hinten gebunden. Jack unterdrückte ein Schaudern. Wie hatten sie die Frau eben übersehen können?
Sie erhob sich und trat auf die Jungen zu, anscheinend völlig unbesorgt über ihre Anwesenheit.
»Bitte setzt euch. Trinkt einen Tee mit mir.«
Jack sah zu Davey und rechnete schon damit, dass sein Freund gleich zur Tür rannte. Stattdessen nickte Davey ihm seelenruhig zu und zog sich einen Stuhl zurecht. Nervös setzte Jack sich ebenfalls.
Die Frau läutete mit einer kleinen Glocke, und eine Haus angestellte erschien. Erfrischungen wurden bestellt, und nach kurzer Zeit kehrte das Mädchen mit einem silbernen Servierwagen zurück und richtete ihn sorgfältig seitlich neben den Schreibtisch ihrer Herrin aus. Auf dem Wagen standen eine sehr gehaltvoll aussehende Obsttorte und ein bauchige Teekanne, aus der träge Dampf aufstieg.
»Das war ja vielleicht eine Geschichte, die mein Mann mir da erzählt hat«, sagte die Frau schließlich. »Er ist oben mit Schreibarbeit beschäftigt und wird erst herunterkommen, wenn Wainwright uns zum Essen ruft. Wir sind also unter uns.« Ihr Flüsterton hatte etwas Beruhigendes und Bedrohliches zugleich. Jack warf einen verstohlenen Blick zu Davey. Sein Freund wirkte entspannt, aber Jack hatte inzwischen gelernt, hinter seine selbstsichere Fassade zu schauen: Seine Augen waren die eines Tieres, das in die Falle gegangen war. Jack teilte dieses Gefühl.
»Sie … Sie sind Jane McBride?«, fragte Jack.
Sie lächelte und schenkte Tee in drei zierliche Porzellantassen. »Timothy hat mir von einem jungen Mann erzählt.« Sie nickte zu Jack, der sich bereits die Finger an der Tasse wärmte. »Einem jungen Mann, der ihn vor seinem nahe bevorstehenden Tod warnte, einem Tod, der ihn morgen ereilen wird, unter den Rädern einer Pferdekutsche.«
Janes Blick war durchdringend. Jack räusperte sich. »Das stimmt leider. Ich weiß, es klingt unmöglich, aber Sie müssen mir vertrauen.«
»Und woher solltest du etwas Derartiges wissen?«, fragte Jane. »Timothy denkt, du gehörst zu irgendeiner Zigeunerfamilie, aber ich kann sehen, dass das nicht der Fall ist. Vielleicht handelt es sich hier um den überaus amüsanten Streich zweier Gassenjungen, die schauen wollen, was bei denen zu holen ist, die mehr haben als sie, aber vielleicht seid ihr auch geisteskrank und verdient es, weggesperrt zu werden.« Sie zog die Augenbrauen hoch und funkelte die beiden an. Weiße Funken stiegen vom Feuer auf und tanzten oben in der Luft, kreisten durchs Zimmer.
»Wir sind nicht geisteskrank«, versicherte Jack ihr.
»Und dann wäre da noch die Tatsache eurer Anwesenheit hier. Ich könnte dafür sorgen, dass man euch hängt.« Ihr Lächeln war wie Eis.
Jack wurde von grässlicher Angst gepackt.
Weitere Kostenlose Bücher