Jack Morrow und das Grab der Zeit: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Lücken gerissen hatte, zeugte von der ziellosen Zerstörung des Krieges. Von manchen Straßen war nur noch schwelender Schutt übrig, während andere unberührt schienen. Gewinner und Verlierer in einem tödlichen Glücksspiel.
Sie sahen wenige benommene Überlebende durch den Schmutz stolpern, grau die Haut, grau die Kleidung, wie stumme Zombies, die durch eine postapokalyptische Landschaft wankten. In manchen Straßen war der Schutt bereits geräumt; ein Anschein von Ordnung wurde aufrechterhalten, als Markthändler ihre Stände aufbauten und Lastwagen ver suchten, ihre Waren anzuliefern. In der Oxford Street herrschte reges Treiben. Die Menschen grüßten durchkommende Soldaten fröhlich, in blinder Missachtung der nur Straßen entfernten Verheerung. Über all dem stand, hinter Rauch und Flammen sichtbar, der ewige Umriss der St. Paul’s-Kathedrale, ein gelassener Zeuge der Jahrhunderte.
In der Nähe des alten Stadttors machten sie Rast und tranken aus einem Brunnen. Jack wusch sich das schmierige Gesicht und trocknete es sich am Ärmel seines schmutzigen Hemdes ab, bevor sie ihre bittere Wanderung fortsetzten. »Könnten wir nicht die Kreuzkammer nehmen?« Jack war erschöpft.
»Hab keine Münzen mehr«, sagte Davey munter, »und ich will auch keine Aufmerksamkeit auf mich ziehen, indem ich versuche, welche zu organisieren.«
Also gingen die Jungen zu Fuß weiter. Die Straßen wurden kleiner und dunkler, je näher sie nach Whitechapel kamen, bis sie sich in einem Labyrinth von Gassen befanden, die Jack zum Großteil nicht wiedererkannte. Hier schlug das Herz der Stadt noch, hier war sie lebendig und ungebrochen und zeigte dem Feuer, das Nacht für Nacht vom Himmel regnete, die Faust. Gerüche und Farben stürzten auf Jacks müde Sinne ein. Von einer Reihe Marktstände trieb das Aroma von gekochten Speisen herüber und lockte seinen leeren Magen. Als wenn Davey Jacks Gedanken gelesen hätte, drückte Davey ihm ein warmes Schinkensandwich in die Hand.
»Woher …?«
»Frag lieber nicht.« Davey ließ ein breites Lächeln aufblitzen. Jack grinste zur Antwort. Gemeinsam überquer ten sie den geschäftigen Marktplatz, verdrückten das gestoh lene Essen und genossen schweigend die Gegenwart des anderen.
Schließen gelangten sie in die Vallance Road und waren beim Friedhof von Whitechapel.
Davey betrat ihn als Erster, verschaffte sich einen Überblick und drehte sich dann zu Jack um. »Ich glaube, wir sind allein. Bringen wir es hinter uns.«
Jack führte ihn zur gegenüberliegenden Ecke des Friedhofs, wo er im Jahr 1940 angekommen war. Er stand auf der aufgewühlten Erde und tastete mit den Händen nach dem Tränentunnel, der ihn hierhergebracht hatte.
Erinnerungen an seine Familie stiegen auf; irgendwie wa ren sie alle mit diesem Ort verbunden. Der Friedhof von Whitechapel war etwas Besonderes, das wusste Jack aus den Geschichten seiner Oma. Er war buchstäblich einzigartig: der letzte Friedhof in der Innenstadt. Jacks Mutter hatte bei einer Bürgerinitiative zu seinem Erhalt mitgemacht; ihr so ziales Engagement war ihr mit einem Flecken Erde und einem Grabstein vergolten worden. Aber es war noch mehr als das. Seine Mutter hatte der Ersten Welt angehört, genau wie er. Trotzdem hatte sie in einer Sozialwohnung gelebt und sich von der fremdartigen Majestät der geheimen Welt fern gehalten, die Jack allmählich kennenlernte. Er fragte sich, warum.
Er war bei ihrem Tod erst sieben Jahre alt gewesen. Sein Vater wollte nie darüber reden, aber seiner Oma hatte er einige Einzelheiten entlocken können, bevor die Demenz ihr ihre Erinnerungen genommen hatte. Seine Mutter war in ihrer Wohnung überfallen worden; der Mörder hatte sie zum Sterben liegen gelassen und war nie gefasst worden. Nun hatte der Mörder für Jack ein Gesicht: das von Rouland.
Aber selbst das Bild seiner Mutter verblasste allmählich, wie die Restglut eines Feuers, und ließ nichts zurück, an das Jack sich halten konnte, bis auf diesen unheimlichen Ort und seinen Hass auf Rouland.
Seine Erinnerungen an sie waren wie ein Flickenteppich. Manche waren echt, manche aus belauschten Gesprächen ge borgt, aus alten Fotos und Videos. Bei anderen handelte es sich um beschönigte Märchen, Geschichten, die er sich selbst erzählte, um das Leben besser ertragen zu können. Mit den Jahren wurde es schwer zu sagen, welche real waren.
Dann spürte er etwas – eine Verbindung; schwach, aber greifbar. Das Kalte dort war der Tränentunnel, voller
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