Jack Reacher 01: Größenwahn
Ihr seid auf Flur drei, Mann. Hier sind die Lebenslänglichen, Mann. Hier sind die Leute, die man für gefährlich hält, Mann. Hier sind noch nicht mal die normalen Insassen. Dies ist der schlimmste Flur, Mann. Jawohl, Jungs, ihr seid am falschen Platz. Jungs, ihr bekommt Ärger, jawohl. Ihr werdet Besucher kriegen. Sie werden euch checken, Jungs. O Mann, ich verschwinde.«
Analysieren. Langjährige Erfahrung hatte mich gelehrt, zuerst zu analysieren und die Lage zu beurteilen. Wenn das Unerwartete über dich hereinbricht, verschwende keine Zeit. Überlege nicht, wie oder warum es passiert ist. Suche nicht den Schuldigen. Überlege nicht, wessen Fehler es war. Finde nicht heraus, wie man das nächste Mal denselben Fehler vermeiden kann. All das kannst du später tun. Wenn du überlebst. Zuerst mußt du analysieren. Die Situation kritisch untersuchen. Ermittle die Nachteile. Schätze die Vorteile ab. Plane dementsprechend. Wenn du das tust, hast du eine bessere Chance, das, was danach kommt, zu überstehen.
Wir waren nicht in einer U-Haft-Zelle im sechsten Stock. Dort, wo noch nicht verurteilte Gefangene sein sollten. Wir waren unter gefährlichen Lebenslänglichen. Es gab keine Vorteile. Die Nachteile hingegen waren beträchtlich. Wir waren Neue auf einem Flur für Strafgefangene. Ohne Status würden wir nicht überleben. Wir hatten keinen Status. Man würde uns herausfordern. Wir würden dazu gezwungen werden, unsere Position am alleruntersten Ende der Hackordnung einzunehmen. Wir hatten ein unangenehmes Wochenende vor uns. Vielleicht sogar ein tödliches.
Ich erinnerte mich an einen Mann in der Army, einen Deserteur. Ein junger Bursche, kein schlechter Soldat, entfernte sich unerlaubt von der Kompanie, weil er einer seltsamen Religion angehörte. Demonstrierte in Washington und bekam Ärger. Endete im Gefängnis, zwischen üblen Typen wie diesen auf unserem Flur. Starb noch in der ersten Nacht. War von hinten vergewaltigt worden. Etwa fünfzig Mal. Er war ein Neuer ohne Status. Am untersten Ende der Hackordnung. Verfügbar für alle, die über ihm standen.
Analysieren. Ich verfügte über eine harte Ausbildung. Und ausreichend Erfahrung. Nicht gedacht für das Leben im Gefängnis, aber helfen würde es schon. Ich hatte eine lange, unangenehme Ausbildung hinter mir. Nicht nur in der Army. Sondern schon in meiner Kindheit. Die Zeit in der Grundschule und High School verbringen Militärkinder wie ich in zwanzig oder sogar dreißig verschiedenen Schulen. Manche befinden sich auf den Stützpunkten, die meisten aber in benachbarten Ortschaften. An einigen strapaziösen Orten. Auf den Philippinen und Island, in Korea, Deutschland, Schottland, Japan und Vietnam. Überall auf der Welt. In jeder neuen Schule war ich am ersten Tag ein Neuer. Ohne Status. Es gab eine Menge erster Tage. Ich lernte schnell, wie man sich Status verschaffte. Auf sandigen, heißen Schulhöfen und auf kalten, nassen Schulhöfen trugen mein Bruder und ich es gemeinsam aus, Rücken an Rücken. Wir bekamen unseren Status.
Dann, beim Militär, war die Brutalität ausgeklügelter. Ich wurde von Experten ausgebildet. Von Männern, die ihre eigene Ausbildung im Zweiten Weltkrieg, in Korea oder Vietnam bekommen hatten. Männern, die Dinge überlebt hatten, von denen ich nur in Büchern gelesen hatte. Sie brachten mir die Methoden, die Techniken und Finessen zum Überleben bei. Aber am meisten brachten sie mir die richtige Einstellung bei. Sie brachten mir bei, daß Hemmungen mein sicherer Tod wären. Schlage zuerst zu, und schlage hart zu. Töte beim ersten Schlag. Nimm deinen Konterschlag vorweg. Täusche. Die Gentlemen, die sich anständig verhalten hatten, bildeten dort niemanden aus. Sie waren schon tot.
Um halb acht gab es ein dumpfes, metallisches Geräusch in der Zellenreihe. Der Zeitschalter hatte die Sperrvorrichtungen gelöst. Unser Gitter sprang einen Zentimeter weit auf. Hubble saß bewegungslos da. Er sagte immer noch nichts. Ich hatte keinen Plan. Das beste wäre gewesen, einen Wärter zu finden, ihm die Sache zu erklären und verlegt zu werden. Aber ich rechnete nicht damit, einen Wärter zu finden. Auf Fluren wie diesen würde niemand einzeln patrouillieren. Sie würden zu zweit gehen, möglicherweise in Gruppen zu dritt oder viert. Das Gefängnis war unterbesetzt. Das war uns gestern abend klargemacht worden. Unwahrscheinlich, daß es genügend Männer für größere Wachtrupps auf jedem Flur gab. Wahrscheinlicher war, daß ich den
Weitere Kostenlose Bücher