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Jack Reacher 01: Größenwahn

Jack Reacher 01: Größenwahn

Titel: Jack Reacher 01: Größenwahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Child
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Zelle war eine nackte Wand. Wenn ich im Bett lag, war von den anderen Zellen nichts zu sehen. Ich warf die Decke ab und suchte meine Schuhe. Ich zog sie an und band sie zu. Legte mich wieder hin. Hubble saß auf dem unteren Bett. Seine Segelschuhe lagen auf dem Betonboden. Ich fragte mich, ob er die ganze Nacht so dagesessen oder ob er auch geschlafen hatte.
    Als nächstes sah ich den Reinigungsmann. Er kam vor unserem Gitter in Sicht. Ein sehr alter Mann mit einem Besen. Ein alter Schwarzer mit einem Schopf aus schneeweißem Haar, Vom Alter gebeugt. Zerbrechlich wie ein alter, runzeliger Vogel, Seine orangefarbene Gefängnisuniform war so oft gewaschen worden, daß sie fast weiß war. Er mußte an die achtzig sein. Hier drinnen seit sechzig Jahren. Hatte vielleicht in den Zeiten der Depression ein Huhn gestohlen. Und bezahlte immer noch an seiner Schuld gegenüber der Gesellschaft.
    Er fuhr ziellos mit dem Besen über den Flur. Seine Wirbelsäule zwang sein Gesicht in Parallelstellung zum Boden. Wie ein Schwimmer drehte er den Kopf hin und her, um etwas zu sehen. Dann erblickte er Hubble und mich und blieb stehen. Stützte sich auf seinen Besen und schüttelte den Kopf. Gab eine Art nachdenkliches Glucksen von sich. Schüttelte wieder den Kopf. Er lachte. Es war ein anerkennendes, dankbares Lachen. Als wäre ihm nach all den Jahren endlich der Anblick eines Fabelwesens gewährt worden. So etwas wie ein Einhorn oder eine Nixe. Er setzte immer wieder zum Sprechen an, hob die Hand, als erfordere seine Aussage besonderen Nachdruck. Aber jedesmal fing er wieder an zu glucksen, und das zwang ihn, den Besen zu umklammern. Ich trieb ihn nicht an. Ich konnte warten. Ich hatte das ganze Wochenende Zeit. Er den Rest seines Lebens.
    »Tja, sieh mal an, ja«, grinste er. Er hatte keine Zahne. »Tja, sieh mal an, ja.«
    Ich sah zu ihm hinüber.
    »Tja, was, Opa?« grinste ich zurück.
    Er gackerte los. Wir würden noch eine Weile brauchen.
    »Tja, ja«, sagte er. Jetzt hatte er sein Glucksen unter Kontrolle. »Ich war schon hier, als Gottes Hund noch ein Welpe war, ja, Sir. Als Adam noch ein Halbwüchsiger war. Aber so etwas habe ich noch nie gesehen. Nein, Sir, in all den Jahren nicht.«
    »Was hast du noch nie gesehen, alter Mann?« fragte ich ihn.
    »Tja«, sagte er. »Ich war all die Jahre hier, und ich habe noch nie jemanden in dieser Zelle gesehen, der solche Kleider wie du anhatte, Mann.«
    »Gefallen dir meine Kleider nicht?« fragte ich. Überrascht.
    »Das habe ich nicht gesagt, nein, Sir, ich habe nicht gesagt, daß mir deine Kleider nicht gefallen«, sagte er. »Ich finden deine Kleider fein. Sind sehr feine Kleider, ja, Sir, jawohl, sehr fein.«
    »Was ist es dann?« fragte ich.
    Der alte Mann gackerte vor sich hin.
    »Die Qualität der Kleider ist nicht der Punkt«, sagte er. »Nein, Sir, das ist überhaupt nicht der Punkt. Sondern die Tatsache, daß du sie trägst, Mann, und nicht die orange Uniform. Das habe ich noch nie gesehen, und wie ich schon sagte, Mann, ich bin hier, seit die Erde abkühlte, seit die Dinosaurier sagten: Was zuviel ist, ist zuviel. Jetzt habe ich alles gesehen, das habe ich wirklich, ja, Sir.«
    »Aber auf dem U-Haft-Flur braucht man keine Uniform zu tragen«, sagte ich.
    »Jawohl, das ist mal sicher«, sagte der alte Mann. »Das ist eine Tatsache, sicher doch.«
    »Das haben die Wärter gesagt«, bekräftigte ich.
    »Das glaube ich gern«, bestätigte er. »Denn so sind die Regeln, und die Wärter, die kennen die Regeln, ja, Sir, sie kennen sie, weil sie sie machen.«
    »Was ist also der Punkt, alter Mann?« fragte ich.
    »Tja, wie ich sagte, ihr tragt keine orangefarbenen Sachen«, sagte er.
    Wir drehten uns im Kreis.
    »Aber ich brauche sie nicht zu tragen«, sagte ich.
    Er war verblüfft. Seine scharfen Vogelaugen bohrten sich in meine.
    »Nicht?« sagte er. »Warum nicht, Mann? Sag's mir.«
    »Weil wir sie im U-Haft-Trakt nicht brauchen«, sagte ich. »Das hast du doch eben bestätigt, oder?«
    Stille. Er und ich begriffen gleichzeitig.
    »Du glaubst, das hier ist der U-Haft-Trakt?« fragte er mich.
    »Ist das nicht der U-Haft-Trakt?« fragte ich ihn zur selben Zeit.
    Der alte Mann zögerte einen Moment. Dann hob er seinen Besen und schob sich aus unserem Blickfeld. So schnell er konnte. Schrie ungläubig vor sich hin, als er ging.
    »Das ist nicht der U-Haft-Trakt, Mann!« kreischte er aufgeregt. »Der U-Haft-Trakt ist im obersten Stock. Sechster Stock. Dies hier ist der dritte Stock.

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