Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
kleiner als dieser hier.«
»Du bist auch viel kleiner als ich.«
Sie schwieg einen Augenblick.
»Er hat Rutter gehört«, sagte sie. »Dieser Makel haftet ihm an.«
Der Verkehr rollte weiter und geriet dann mitten über dem Harlem River wieder ins Stocken. Weit links von ihnen waren die Gebäude der Midtown als vage Silhouetten zu erahnen.
»Er ist nur ein Ding«, sagte Reacher. »Dinge haben kein Gedächtnis.«
»Ich hasse diesen Kerl«, sagte sie. »Mehr als ich jemals einen Menschen gehasst habe.«
Er nickte.
»Als wir bei ihm waren, habe ich die ganze Zeit an die Hobies denken müssen, die droben in Brighton allein in ihrem kleinen Haus sitzen. An den traurigen Blick in ihren Augen. Seinen einzigen Sohn in den Krieg zu schicken, ist schrecklich genug, Jodie, aber danach belogen und betrogen zu werden ... dafür gibt’s keine Entschuldigung. Nimmt man eine andere Zeit, hätte es meinen Eltern genau so ergehen können. Und das hat dieses Schwein mindestens fünfzehnmal gemacht! Ich hätte ihn noch viel schlimmer zurichten sollen.«
»Wenn er’s nur nicht wieder tut«, sagte sie.
Er schüttelte den Kopf. »Die Liste möglicher Zielpersonen wird täglich kleiner. Es gibt nicht mehr allzu viele LNG-Familien, die auf ihn reinfallen können.«
Sie verließen die Brücke und fuhren auf der Second Avenue nach Süden. Der Verkehr lief wieder zügig.
»Und es waren nicht Rutters Leute, die hinter uns her waren«, stellte Jodie fest. »Er hat nicht gewusst, wer wir sind.«
Reacher schüttelte erneut den Kopf. »Nein. Wie viele gefälschte Fotos müsste man verkaufen, damit man’s sich leisten kann, ihretwegen einen Chevy Suburban zu Schrott zu fahren? Wir müssen diese Sache von Anfang an analysieren, Jodie. Zwei Vollzeitbeschäftigte werden nach Key West und anschließend nach Garrison geschickt, stimmt’s? Zwei Kerle plus Waffen und Flugtickets und allem. Sie fahren mit einem Tahoe herum, und ein Dritter kreuzt mit einem Suburban auf, mit dem er einen Unfall provoziert? Dahinter steckt eine Menge Geld - und das ist vermutlich nur die Spitze eines Eisbergs. Es lässt auf jemanden schließen, der vermutlich über Millionen verfügt. So viel Geld konnte Rutter nicht damit verdienen, dass er alte Leute um achtzehntausend Dollar pro Foto erleichtert hat.«
»Was zum Teufel steckt also dahinter?«
Hobie nahm den Anruf aus Hanoi zu Hause entgegen. Er hörte sich die kurze Meldung der Vietnamesin an und legte wortlos auf. Dann stand er mitten in seinem Wohnzimmer, hielt den Kopf schief und kniff sein gesundes Auge zusammen, als verfolge er, wie ein gewaltig geschlagener Baseball vom Flutlicht hell angestrahlt eine hohe Parabel beschrieb, ein Outfielder unter ihm rückwärts lief, der Zaun am Spielfeldrand immer näher kam, der Fanghandschuh hochgerissen wurde, der Ball weiterflog, der Zaun aufragte, der Outfielder hochsprang. Würde der Ball über den Zaun gehen? Oder nicht? Das konnte Hobie nicht beurteilen.
Er trat auf die Terrasse. Seine Dachterrasse mit Blick nach Westen über den Central Park lag im dreißigsten Stock. Das war eine Aussicht, die er hasste, weil die vielen Bäume ihn an seine Jugend erinnerten. Aber sie erhöhte den Wert seiner Luxuswohnung, und nur darauf kam es an. Er war nicht dafür verantwortlich, wie der Geschmack anderer Leute den Markt beeinflusste; er war nur da, um daraus Gewinn zu schlagen. Hobie blickte nach links, wo er an der Spitze Manhattans sein Bürogebäude sehen konnte. Von hier aus wirkten die Twin Towers wegen der schon sichtbaren Erdkrümmung niedriger, als sie in Wirklichkeit waren. Er ging wieder hinein und schloss die Schiebetür. Verließ sein Apartment und fuhr mit dem Aufzug in die Tiefgarage.
Sein Wagen, ein neuer Cadillac, war nicht behindertengerecht umgebaut. Zündschloss und Automatikschaltung befanden sich rechts neben der Lenksäule. Das Anlassen war umständlich, weil er sich weit nach rechts beugen musste, um den Zündschlüssel mit der linken Hand ins Schloss zu stecken und umzudrehen. Alles Weitere machte jedoch keine Mühe. Er benutzte seinen Haken, um den Schalthebel zu verstellen, und lenkte den Cadillac dann einhändig aus der Tiefgarage.
Er fühlte sich wohler, als er den Park hinter sich ließ und in die von Lärm erfüllten Canyons der Midtown eintauchte. Der Verkehr beruhigte ihn. Die Klimaanlage des Cadillac linderte das Jucken seiner Narben. Im Juni war es am schlimmsten. Das hatte mit der Hitze und Luftfeuchtigkeit zu tun, und es
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