Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
sich zu belästigen. Er bediente den Verstellmechanismus einige Male wie ein Junge, der ein neues Spielzeug ausprobiert; dann ließ er die Rückenlehne in einem vernünftigen Winkel halb gekippt und schlug das Bordmagazin auf, das druckfrisch und neu, nicht abgegriffen und schmierig war wie die anderen, die vierzig Reihen hinter ihm gelesen wurden.
Jodie, die ihre Schuhe abgestreift und die Beine hochgezogen hatte, verschwand fast in ihrem Sessel. Sie hatte wie Reacher das Bordmagazin aufgeschlagen und neben sich ein Glas eisgekühlten Champagner stehen. In der Kabine war es still. Sie lag weit entfernt von den Triebwerken, deren gedämpfter Lärm nicht lauter als das Zischen der kühlen Luft aus den Düsen über ihnen war. Vibrationen gab es hier keine. Reacher beobachtete das Perlen des goldgelben Inhalts von Jodies Glas.
»Ich könnte mich direkt daran gewöhnen, so zu reisen«, sagte er.
Sie sah auf und lächelte.
»Nicht bei deinem Stundenlohn«, meinte sie.
Er nickte und rechnete. Für einen Tageslohn beim Ausschachten von Swimmingpools hätte er ungefähr fünfzig Meilen Flug in der ersten Klasse bekommen. Bei Reisegeschwindigkeit war diese Strecke in etwa fünf Minuten zurückgelegt. Zehn Stunden Arbeit - in fünf Minuten verjubelt. Theoretisch gab er sein Geld hundertzwanzigmal schneller aus, als er es verdient hatte.
»Was hast du vor, wenn diese Geschichte vorbei ist?«, fragte sie.
»Weiß ich nicht«, antwortete er.
Tatsächlich beschäftigte ihn diese Frage schon, seit Jodie ihm von dem Haus erzählt hatte. Das Haus selbst erschien ihm in seiner Phantasie mal freundlich, mal bedrohlich - wie ein Hologramm, das seinen Charakter veränderte, je nachdem, wie man es ans Licht hielt. Manchmal lag es im Sonnenschein vor ihm - wohnlich, behäbig und weitläufig inmitten seines leicht verwilderten Gartens - und wirkte wie ein behagliches Heim. Bei anderen Gelegenheiten erschien es ihm wie eine riesige Tretmühle, in der er ohne Ende laufen musste, um ja nicht an Boden zu verlieren. Er kannte Leute mit Häusern. Häuser zwangen ihren Besitzern einen bestimmten Lebensstil auf. Selbst wenn man eines geschenkt bekam oder wie er von Leon erbte, verpflichtete es einen zu allen möglichen Dingen. Man musste Vermögenssteuer zahlen. Das Haus gegen Feuer- und Sturmschäden versichern. Dazu kam der Unterhalt. Leute mit Häusern ließen ständig etwas reparieren. Sie bauten modernere Heizungen ein oder mussten Dächer neu decken. Die Außenwände brauchten regelmäßig einen frischen Anstrich, und auch die Fenster.
»Willst du dir einen Job suchen?«, fragte Jodie.
Reacher starrte durch das ovale Fenster auf Südkalifornien hinab, das elf Kilometer unter ihm lag. Was für eine Art Job? Das Haus würde ihn an Steuern, Versicherungsprämien und Unterhalt schätzungsweise zehntausend Dollar pro Jahr kosten. Und es lag so einsam, dass er Rutters Auto würde behalten müssen. Der Wagen hatte ihn wie das Haus nichts gekostet, aber sein Unterhalt würde Geld verschlingen. Steuer, Versicherung, Ölwechsel, Inspektionen, Benzin. Wahrscheinlich weitere dreitausend pro Jahr. Dazu die Ausgaben für Essen, Kleidung und Strom, Wasser und Heizöl. Und wenn er ein Haus besaß, würde er weitere Dinge haben wollen - eine Stereoanlage zum Beispiel und Wynonna-Judds-CD. Er erinnerte sich an die handgeschriebene Ausgabenliste der alten Mrs. Hobie. Sie hatte errechnet, wie viel Geld sie mindestens pro Jahr brauchten, und er konnte sich nicht vorstellen, mit weniger auszukommen. Der ganze Deal kam auf schätzungsweise dreißigtausend Dollar pro Jahr, was bedeutete, dass er mindestens fünfzigtausend verdienen musste, um seine Einkommensteuer zahlen und an fünf Tagen in der Woche dorthin fahren zu können, wo sich dieses Geld verdienen ließ.
»Weiß ich nicht«, sagte er wieder.
»Du könntest alles Mögliche machen.«
»Nämlich?«
»Du hast Talente. Du bist beispielsweise ein sehr guter Ermittler. Dad hat immer gesagt, du seist der beste.«
»Das war in der Army«, entgegnete er. »Damit ist’s endgültig vorbei.«
»Fähigkeiten verschwinden nicht einfach, Reacher. Gute Leute sind immer gefragt.«
Dann sah sie ihn begeistert an. »Du könntest Costellos Detektivbüro übernehmen. Wir haben ihn dauernd beschäftigt.«
»Großartig! Erst bin ich daran schuld, dass der Kerl umkommt, dann reiß ich mir sein Geschäft unter den Nagel.«
»Das war nicht deine Schuld«, meinte Jodie. »Du solltest darüber nachdenken.«
Also
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