Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
Sie zuckte zusammen.
»Wo sind die Schlüssel?«, fragte er.
»Der BMW gehört mir«, sagte sie.
»Jetzt nicht mehr.«
Er brachte den Haken noch näher an ihr Gesicht heran. Sie konnte Metall und Leder riechen.
»Soll ich sie durchsuchen?«, fragte der Neue. »Vielleicht hat sie die Schlüssel doch an ihrem Körper versteckt. Ich wüsste ein paar interessante Stellen, wo ich nachsehen könnte.«
Sie fuhr zusammen.
»Schlüssel?«, fragte Hobie leise.
»Küchentheke«, antwortete sie flüsternd.
Hobie nahm den Haken weg und ging zufrieden grinsend an Marilyn vorbei. Der neue Typ machte ein enttäuschtes Gesicht. Er nickte, um zu bestätigen, dass er die geflüsterte Antwort gehört hatte, ging langsam zur Tür und ließ die Chevy- und Mercedesschlüssel in seiner Hand klimpern.
»Freut mich, dass wir ins Geschäft gekommen sind«, sagte er im Weggehen.
Dann blieb er an der Tür stehen, sah sich um und starrte wieder Marilyn an.
»Wissen Sie bestimmt, dass sie off limits ist, Hobie? Wo wir doch alte Freunde sind und schon so viele Geschäfte miteinander gemacht haben?«
Hobie schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Kommt nicht in Frage. Sie gehört mir.«
Der Kerl zuckte mit den Schultern und verließ weiter mit den Autoschlüsseln klimpernd das Büro. Einen Augenblick später hörten sie draußen die Korridortür ins Schloss fallen. Dann surrte der Aufzug nach unten, und in dem abgedunkelten Raum wurde es wieder still. Mit einem Blick auf die Bündel von Dollarscheinen auf seinem Schreibtisch ging Hobie in die Toilette zurück. Marilyn und Chester blieben unter Bewachung auf dem Sofa: frierend, hungrig, geschockt. Das durch die Spalten der Lamellenjalousien einfallende Licht nahm allmählich ab. Die Abenddämmerung brach herein. Aus der Toilette drang weiterhin kein Laut, bis es nach Marilyns Schätzung ungefähr acht Uhr abends war. Dann zerrissen Schreie die Stille.
Das Flugzeug jagte nach Westen hinter der Sonne her, blieb aber ständig ein wenig weiter hinter ihr zurück, verlor letztlich drei Stunden und landete um fünfzehn Uhr auf Oahu. Die Passagiere der ersten Klasse durften vor denen der Business- und Economyklasse aussteigen, was bedeutete, dass Jodie und Reacher als Erste das Terminalgebäude verließen und den Taxistand erreichten. Temperatur und Luftfeuchtigkeit waren ähnlich wie in Texas, aber die Luft roch wegen der Nähe zum Pazifik leicht salzig. Und das Licht war weniger grell. Jodie, die wieder ihre Sonnenbrille trug, betrachtete die Szenerie außerhalb des Flughafenzauns mit gewisser Neugier, denn sie war in der aktiven Dienstzeit ihres Vaters ein Dutzend Mal auf Hawaii zwischengelandet, ohne die Insel wirklich kennen gelernt zu haben. Reacher erging es ähnlich. Auch er kannte Hawaii von Zwischenlandungen auf zahllosen Pazifikflügen, war aber nie hier stationiert gewesen.
Der erste Wagen am Taxistand war praktisch eine Kopie ihres Taxis in Dallas-Fort Worth: ein frisch gewaschener Caprice mit auf vollen Touren laufender Klimaanlage und einem Fahrerabteil, das eine Kombination aus religiöser Andachtsstätte und Wohnzimmer war. Sie enttäuschten den Fahrer, weil sie die kürzeste auf Oahu mögliche Taxifahrt wünschten: die halbe Meile auf der am Flughafen vorbeiführenden Straße zum Tor der Hickam Air Force Base. Der Kerl drehte sich nach der langen Taxischlange hinter sich um, und Reacher konnte ihm ansehen, dass er an die besseren Aufträge dachte, die seine Kollegen bekommen würden.
»Dafür gibt’s zehn Dollar Trinkgeld«, sagte er.
Der Kerl warf ihm einen ähnlichen Blick zu wie der Angestellte am Ticketschalter am Flughafen Dallas-Fort Worth. Eine Strecke, bei der die Taxiuhr nicht mehr als den Grundpreis anzeigen würde, aber zehn Dollar Trinkgeld? Reacher sah ein aufs Instrumentenbrett geklebtes Foto, das vermutlich die Familie des Taxifahrers zeigte. Eine große Familie, schwarzhaarige, lächelnde Kinder und eine schwarzhaarige, lächelnde Frau in einem fröhlich bunten Baumwollkleid, die alle vor einem schlichten, gepflegten Haus mit üppigem Blumenschmuck standen. Er dachte an die Hobies, an ihr düsteres Haus in Brighton, das Zischen der Sauerstoffflasche und das Knarren der abgetretenen Fußböden. Und an Rutters schäbigen, heruntergekommenen Laden in der Bronx.
»Zwanzig Dollar«, sagte er. »Wenn Sie uns gleich hinbringen, okay?«
»Zwanzig Dollar?«, wiederholte der Kerl verblüfft.
»Dreißig. Für Ihre Kinder. Sie sehen nett aus.«
Der Kerl grinste in
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