Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
Jodie Garber. Und sie wollte mit ihm sprechen. Sie saß vor ihm und strich ihr Haar nach hinten. Langes blondes Haar, kleine Ohren.
»Hi, Reacher«, sagte sie.
Ihre Stimme. Ganz ohne Zweifel. Kein Irrtum möglich.
Also war sie wahrscheinlich doch tot. Vielleicht bei einem Verkehrsunfall umgekommen. Das wäre eine grausame Ironie des Schicksals gewesen.
»Hi, Jodie«, sagte er.
Sie lächelte. Es gab Kommunikation. Also war sie tot. Bestimmt konnten sich nur Tote untereinander reden hören. Aber er musste es sicher wissen.
»Wo sind wir?«, fragte er.
»St. Vincent’s«, antwortete sie.
St. Petrus kannte er. Das war der Kerl am Himmelstor. Er hatte schon Bilder von ihm gesehen. Nun, keine richtigen Bilder, sondern Cartoons. Er war ein alter Mann mit Bart und langem Gewand, stand an einem Pult und fragte einen, aus welchen Gründen man eingelassen werden wollte. Aber er konnte sich nicht daran erinnern, dass St. Petrus ihm irgendwelche Fragen gestellt hatte. Vielleicht kam das später. Vielleicht musste man den Himmel wieder verlassen und dann versuchen reinzukommen.
Aber wer war St. Vincent? Vielleicht war er derjenige, der den Ort verwaltete, in dem man wartete, bis man vor St. Petrus geführt wurde. Eine Art Rekrutenlager. Nun, das würde kein Problem sein. Im Rekrutenlager war er mühelos zurechtgekommen. Er würde auch diesmal damit klarkommen. Aber er ärgerte sich darüber. Er war zuletzt Major gewesen, verdammt noch mal - ein Star. Er hatte Orden vorzuweisen. Warum, zum Teufel, sollte er noch mal eine Rekrutenausbildung absolvieren müssen?
Und warum war Jodie hier? Sie sollte am Leben sein. Er spürte, dass seine linke Hand zur Faust geballt und er äußerst ungehalten war. Er hatte ihr das Leben gerettet, weil er sie liebte. Wieso war sie dann tot? Was, verdammt noch mal, wurde hier gespielt? Er versuchte sich aufzusetzen. Irgendetwas hielt ihn fest. Was war das wieder? Er wollte ein paar Antworten bekommen, sonst würde er’s ihnen zeigen.
»Ganz ruhig«, sagte Jodie.
»Ich will St. Vincent sprechen«, erklärte er. »Und zwar sofort! Sag ihm, er soll seinen faulen Arsch binnen fünf Minuten hier reinwuchten, sonst bin ich echt sauer.«
Sie betrachtete ihn forschend, dann nickte sie.
»Okay«, meinte sie.
Dann stand sie auf. Sie verschwand aus seinem Blickfeld, und er ließ sich zurücksinken. Dies war bestimmt kein Rekrutenlager. Viel zu ruhig dafür, und die Kissen zu weich.
Im Nachhinein betrachtet hätte es ein Schock sein müssen. Aber es war keiner. Das Zimmer um ihn herum wurde scharf, und er erkannte die weißen Möbel und die blitzenden Geräte und dachte: Krankenhaus. Den Wechsel vom Toten zum Lebenden tat er mit dem gleichen innerlichen Schulterzucken ab, mit dem ein viel beschäftigter Mann erkennt, dass er sich im Wochentag geirrt hat.
Das Zimmer war sonnenhell. Er drehte den Kopf zur Seite und sah, dass es ein Fenster besaß. Dort saß Jodie in einem Sessel und las. Er atmete bewusst leise und beobachtete sie. Ihr frisch gewaschenes Haar glänzte. Es fiel ihr bis auf die Schultern herab, und sie spielte mit einer Strähne, die sie zwischen Daumen und Zeigefinger zwirbelte. Sie trug ein gelbes, ärmelloses Kleid. Ihre Schultern waren sommerlich gebräunt, die Arme lang und schlank. Sie trug zu ihrem Kleid passende beige Slipper.
»Hey, Jodie«, sagte er.
Sie drehte den Kopf zur Seite und sah ihn an. Forschte in seinem Gesicht nach etwas, und als sie es fand, lächelte sie.
»Selber hey«, erwiderte sie. Dann legte sie ihr Buch beiseite, stand auf, machte drei Schritte, beugte sich über ihn und gab ihm einen sanften Kuss.
»St. Vincent’s«, bemerkte er. »Du hast’s mir gesagt, aber ich war verwirrt.«
Sie nickte.
»Du warst voller Morphium«, sagte sie. »Sie haben dich damit vollgepumpt. Was du im Blut hattest, hätte alle Süchtigen von New York glücklich gemacht.«
Er nickte. Sah zum Fenster hinüber. Es schien Nachmittag zu sein.
»Welcher Tag ist heute?«
»Wir haben Juli. Du warst drei Wochen bewusstlos.«
»O Gott, dann müsste ich ausgehungert sein.«
Sie ging ums Fußende des Betts herum und trat an die linke Seite. Legte ihre Hand auf seinen Unterarm. Er sah, dass dünne Plastikschläuche in die Armvenen an seinem Ellbogen führten.
»Man hat dich künstlich ernährt«, erklärte sie. »Ich habe aufgepasst, damit du bekommst, was du am liebsten magst. Du weißt schon, viel Traubenzucker und Vitamine.«
Er nickte.
»Nichts geht über Vitamine«,
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