Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
trotzdem. Seine Ärmel reichten bis fast zu den Fingern. Ein Gürtel um ihre Levi’s schnürte die schmale Taille zusammen, und ihre schlanken Beine schienen sie nicht ganz auszufüllen. Sie wirkte zerbrechlich, aber der Schein trog. Als Jodie sich über die Papiere beugte, fiel ihr Haar nach vorn, und er roch wieder den frischen Duft.
»Was suchen wir?«, fragte sie.
Er zuckte mit den Schultern. »Das wissen wir, wenn wir’s finden, denke ich.«
Sie gingen sorgfältig vor, jedoch ohne Erfolg. Es gab nichts zu finden. Nichts Aktuelles, nichts Wichtiges. Nur massenhaft Papier, das mit dem Unterhalt des Hauses zusammenhing. Das jüngste Schriftstück war das Testament, das in einer eigenen Mappe lag und in einem festen braunen und sauber beschrifteten Umschlag steckte. Sauber, aber mit der leicht zittrigen Schrift eines Mannes, der gerade nach dem ersten Herzanfall aus dem Krankenhaus entlassen worden ist. Jodie ging mit dem Umschlag hinaus und verstaute ihn im Innenfach ihrer Reisetasche.
»Irgendwelche unbezahlten Rechnungen?«, rief sie aus der Diele.
Reacher fand eine Mappe, die mit UNERLEDIGTES beschriftet, aber leer war.
»Ich sehe keine«, antwortete er. »Aber vermutlich stehen noch welche aus, oder? Kommen sie monatlich?«
Jodie nickte ihm von der Tür aus zu.
»Ja«, sagte sie. »Monat für Monat.«
Eine weitere Mappe war mit HEILKOSTEN beschriftet. Sie quoll von quittierten Arzt- und Klinikrechnungen sowie Schreiben von Leons Krankenkasse über. Reacher blätterte in den Rechnungen.
»Gott, ist das alles wirklich so teuer?«
Sie kam wieder herein, um zu sehen, was er in der Hand hielt.
»Allerdings«, sagte sie. »Bist du krankenversichert?«
Er sah verdutzt zu ihr auf.
»Ich glaube, die Veteran’s Administration würde für mich aufkommen, zumindest für gewisse Zeit.«
»Das solltest du mal nachprüfen«, sagte sie. »Dich vergewissern.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich fühle mich gesund.«
»Das hat Dad auch getan«, meinte sie. »Dreiundsechzigeinhalb Jahre lang.«
Sie kniete sich wieder neben ihn. Ihre Augen glänzten feucht. Er legte ihr sanft eine Hand auf den Arm.
»Ein Scheißtag, was?«
Sie nickte angestrengt blinzelnd. Dann rang sie sich ein kleines Lächeln ab.
»Unglaublich«, sagte sie. »Ich bringe den Alten unter die Erde, zwei Killer schießen auf mich, ich mache mich strafbar, indem ich Straftaten vertusche, und ich lasse mich dazu überreden, gemeinsame Sache mit einem wilden Mann zu machen, der Selbstjustiz üben will. Weißt du, was Dad dazu gesagt hätte?«
»Was?«
Sie schob die Lippen vor und senkte ihre Stimme, um Garbers gutmütiges Knurren nachzuahmen. »Das gehört alles dazu, Kind, das gehört alles dazu. Das hätte er zu mir gesagt.«
Reacher erwiderte ihr Lächeln und drückte nochmals sanft ihren Arm. Dann blätterte er in den unter HEILKOSTEN abgelegten Rechnungen und zog eine davon heraus.
»Als Erstes sollten wir diese Klinik suchen«, sagte er.
In dem Tahoe wurde lange diskutiert, ob sie überhaupt zurückfahren sollten. In Hobies Wortschatz war Versagen kein populäres Wort. Vielleicht war es am besten, einfach abzuhauen und zu verschwinden. Irgendwo unterzutauchen. Das war eine verlockende Vorstellung. Aber sie konnten ziemlich sicher sein, dass Hobie sie finden würde. Vielleicht nicht sofort, aber er würde sie finden. Und das war eine weniger verlockende Vorstellung.
Also konzentrierten sie ihre Aufmerksamkeit auf Schadensbegrenzung. Was sie dafür tun müssten, war klar. Sie legten die notwendigen Zwischenhalte ein und vergeudeten auf der Rückfahrt gerade genug Zeit in einem Schnellrestaurant an der Route 9, um plausibel zu wirken. Bis sie sich durch dichten Verkehr wieder bis zur Südspitze Manhattans durchgekämpft hatten, war ihre Story fertig.
»Da war nichts zu machen«, sagte der erste Kerl. »Wir haben stundenlang gewartet - darum kommen wir auch so spät zurück. Das Problem war, dass dort eine Menge Soldaten herumgelaufen sind - irgendwie feierlich, aber alle mit Gewehren bewaffnet.«
»Wie viele?«, fragte Hobie.
»Soldaten?«, sagte der zweite Kerl. »Mindestens ein Dutzend. Vielleicht fünfzehn. Sind ständig durcheinander gelaufen, waren deshalb schwer zu zählen. So eine Art Ehrengarde.«
»Mrs. Jacob ist mit ihnen weggefahren«, fuhr der erste Kerl fort. »Sie müssen sie vom Friedhof herbegleitet haben, und anschließend ist sie mit ihnen wieder weggefahren.«
»Ihr seid nicht vielleicht auf die Idee gekommen
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