Jack Reacher 09: Sniper
gebeten, ihren Koffer auf ihr Zimmer zu bringen. Dann war sie gegangen. Wahrscheinlich hätte er ihre Karte danach an der Rezeption abgeben sollen. Aber das tat er nicht. Er musste nirgends hin. Zumindest vorerst nicht. Also stellte er den Koffer ab und blieb einfach da.
Alles in allem begeisterte ihn Zimmer 310 nicht sonderlich. Es lag im dritten Stock, was eine Flucht durchs Fenster schwierig machte. Zimmer acht im Motor Court war besser gewesen. Viel besser. Erdgeschoss, ein verwinkeltes altes Viertel … da hatte man wenigstens eine faire Chance. Das Fenster öffnen, hinausklettern, sich nach einer Gasse, einer Tür oder einem anderen Fenster umsehen. Das war gut. Dies hier war schlecht. Er befand sich drei Stockwerke über dem Erdboden. Ein langer Abstieg. Und er wusste nicht mal, ob die Fenster im Marriott sich öffnen ließen. Vielleicht blieben sie permanent geschlossen. Vielleicht hatten die Juristen in der Firmenzentrale sich Sorgen wegen Haftungsfragen gemacht. Hatten haufenweise Kleinkinder auf den asphaltierten Parkplatz herabstürzen sehen. Jedenfalls lag dieses Zimmer nicht gerade strategisch günstig. Nicht für längere Zeit. Aber für einen Kurzaufenthalt war es okay. Also schloss er die Augen und ließ sich treiben. Schlaf, wenn du kannst, denn du weißt nie, wann du wieder dazu kommst. Das war die alte Soldatenregel.
Emersons Plan war ziemlich unkompliziert. Er brachte Donna Bianca in Zimmer sieben unter. Befahl den beiden Streifenpolizisten, ihren Wagen drei Blocks weit entfernt abzustellen und zu Fuß zurückzukommen und in Zimmer neun zu warten. Er postierte ein Fahrzeug zwei Straßen hinter dem Motor Court, ein weiteres vier Blocks nördlich bei den Autohändlern und ein drittes zwei Blocks südlich. Er wies den Angestellten an, die Augen offen zu halten und Bianca in Zimmer sieben anzurufen, sobald der Kerl, den er unter dem Namen Heffner kannte, sich blicken ließ.
Eileen Hutton kam um halb fünf ins Marriott zurück. An der Rezeption lag keine Schlüsselkarte für sie. Auch keine Nachricht. Also fuhr sie mit dem Aufzug hinauf, folgte den Pfeilen zu Zimmer 310 und klopfte an die Tür. Nach kurzer Pause wurde die Tür geöffnet, und Reacher ließ sie ein.
»Wie ist mein Zimmer?«, fragte sie.
»Das Bett ist bequem«, antwortete er.
»Ich soll Emerson anrufen, falls ich dich sehe«, sagte sie.
»Wirst du’s tun?«
»Nein.«
»Meineid und Verstecken eines Kriminellen«, sagte er. »Alles an einem Tag.«
Sie wühlte in ihrer Handtasche und brachte Emersons Karte zum Vorschein. »Du bist ihr einziger Verdächtiger. Er hat mir drei verschiedene Telefonnummern gegeben. Sie meinen’s anscheinend ernst.«
Er ließ sich die Karte geben. Steckte sie in seine Hüfttasche zu der Cocktailserviette, auf der Helen Rodins Handynummer stand. Er wurde allmählich zu einem wandelnden Telefonbuch.
»Wie ist die Sache mit Rodin gelaufen?«, fragte er.
»Problemlos«, erwiderte sie.
Er sagte nichts. Sie machte einen Rundgang, besichtigte die Suite. Bad, Schlafzimmer, Wohnzimmer, Kochnische. Sie nahm ihren Koffer und stellte ihn ordentlich an eine Wand.
»Willst du bleiben?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf.
»Ich kann nicht«, sagte er.
»Okay.«
»Aber ich kann später zurückkommen, wenn du möchtest.«
Sie überlegte kurz.
»Okay«, sagte sie dann. »Komm später wieder.«
Alex Rodin ging in sein Büro zurück, schloss die Tür und rief Emerson an.
»Haben Sie ihn schon?«, fragte er.
»Nur eine Frage der Zeit«, meinte Emerson. »Wir fahnden in der ganzen Stadt nach ihm. Und wir beobachten sein Zimmer. Er ist im alten Motor Court. Unter falschem Namen.«
»Interessant«, sagte Rodin. »Das könnte bedeuten, dass er auch im Metropole einen falschen Namen verwendet hat.«
»Ich frag mal nach«, erklärte Emerson. »Ich zeige dem Kerl an der Rezeption das Fahndungsbild.«
»Vielleicht können wir ihn jetzt wirklich festnageln«, sagte Rodin. Als er auflegte, stellte er sich zwei neue eingerahmte Schlagzeilen an seiner Trophäenwand vor. Erst Barr und dann Reacher.
Reacher verließ Huttons Suite und benützte statt des Aufzugs die Treppe. Im Erdgeschoss wandte er sich von der Hotelhalle ab und fand einen rückwärtigen Korridor, der zu einem Notausgang mit einer Brandschutztür führte. Er stieß sie auf, trat ins Freie und stellte einen Fuß in die Tür. Zog Emersons Karte aus der Tasche, zerriss sie der Länge nach und faltete die Hälfte mit dem Namen viermal.
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