Jack Reacher 09: Sniper
nötig, sich an einen Pfeiler zu drücken. Nicht nötig, sich den Rücken daran zu reiben wie ein altes Wildschwein an einem Baumstamm.
Er stand dort und beobachtete. Aus dem Dienstgebäude strömten immer mehr Leute. Manche blieben stehen und zündeten sich eine Zigarette an, sobald sie ins Freie traten. Andere liefen sofort nach Westen weiter, manche rasch, manche langsam. Alle bogen ab und wählten den Weg um das Nordende des Zierteichs. Niemand ging dort, wo Barrs Opfer gegangen waren. Die Erinnerungsgaben dienten als Abschreckung. Weshalb es schwierig war, sich vorzustellen, wie sich die Szene am Freitagabend dargestellt hatte. Schwierig, aber nicht unmöglich. Reacher beobachtete die Gehenden und ließ sie im Geist geradeaus weitergehen. An der Engstelle würden sie langsamer werden. Aber nicht zu langsam. Und sie würden dicht hintereinander hergehen. Die Kombination aus mittlerem Tempo und räumlicher Nähe würde die Seitenwinkel übermäßig vergrößern. Das gehörte zum Grundwissen jedes Scharfschützen. Ein Vogel, der in hundert Metern Entfernung vorbeiflog, war ein leichtes Ziel. Derselbe Vogel, der gleich schnell zwei Meter vor dem Gesicht des Schützen vorbeiflog, war unmöglich zu treffen.
Er stellte sich Menschen vor, die von rechts nach links strömten. Er schloss ein Auge, streckte den rechten Arm aus und zielte mit dem Zeigefinger. Klick-klick-klick-klick-klick-klick . Sechs gezielte Schüsse. Vier Sekunden. Rasch nacheinander. Schwierige Ziele. Anspannung, Exponiertheit, Verwundbarkeit.
Sechs Treffer, wenn man den absichtlichen Fehlschuss mitzählte.
Eine außergewöhnliche Leistung.
Sie vergessen nichts.
Reacher ließ den Arm herabfallen. Im Halbdunkel war es kalt. Ihn fröstelte. Die Luft fühlte sich klamm und feucht an und roch nach Kalk. In Kuwait war es damals heiß gewesen. Die Luft hatte gewabert, hatte nach festgebackenem Staub und Wüstensand gerochen. Reacher hatte in dem Parkhaus gestanden und geschwitzt. Die Straße unter ihm war blendend hell gewesen. Mörderisch heiß. Wie ein Hochofen.
Heiß in Kuwait.
Vier Schüsse dort.
Sechs Schüsse hier.
Er stand da und beobachtete die Leute, die das DMV-Gebäude verließen. Es waren viele. Zehn, zwölf, fünfzehn, zwanzig. Sie bogen ab, wichen nach Norden aus und gingen dann zwischen dem Zierteich und dem NBC-Pfau nach Westen weiter. Sie ließen einander Platz. Aber an der Engstelle wären sie zusammengedrängt gewesen.
Viele Leute.
Sechs Schüsse in vier Sekunden.
Er hielt Ausschau nach jemandem, der sich nicht bewegte. Entdeckte jedoch niemanden. Keine Cops, keine alten Männer in unmodischen Zweireihern. Er machte kehrt, ging auf demselben Weg zurück. Hob die Absperrbänder wieder hoch, schlüpfte darunter hindurch und ging die Rampen hinunter. Trat auf die Straße hinaus und wandte sich nach Westen, um in den Schatten unter dem Highway zu gelangen. Um in die Stadtbibliothek zu gelangen.
Er überquerte die vierzig Meter breite freie Fläche, hielt sich dicht an der Außenmauer der Bibliothek und betrat sie durch einen Behinderteneingang. Drinnen musste er die Ausleihe passieren, aber das bereitete ihm keine Sorgen. Fing Emerson an, Steckbriefe zu verteilen, würde er mit Postämtern, Bars und Hotels beginnen. Bis er so weit war, Bibliothekarinnen zu befragen, würde noch viel Zeit vergehen.
Er erreichte das Foyer, ohne angehalten zu werden, und trat an das Münztelefon. Zog die Cocktailserviette aus der Tasche und wählte Helen Rodins Handynummer. Sie meldete sich beim fünften Klingeln. Er stellte sich vor, wie sie in ihrer Umhängetasche wühlte, mit zusammengekniffenen Augen den Bildschirm anstarrte, an den kleinen Tasten herumfummelte.
»Sind Sie allein?«, fragte er.
»Reacher?«
»Ja«, sagte er. »Sind Sie allein?«
»Ja«, antwortete sie. »Aber nach Ihnen wird gefahndet.«
»Wer hat Sie angerufen?«
»Mein Vater.«
»Glauben Sie ihm?«
»Nein.«
»Ich komme Sie besuchen.«
»In der Eingangshalle steht ein Cop.«
»Kann ich mir denken. Ich nehme den Weg durch die Tiefgarage.«
Er hängte ein, ging an der Ausleihe vorbei und verließ das Gebäude durch den Nebenausgang. Dann wieder unter den Highway, in dessen Schutz er blieb, bis er hinter dem schwarzen Glasturm angelangt war. Gegenüber der Tiefgarageneinfahrt. Er sah nach links und rechts und lief die Zufahrtsrampe hinunter. An den NBC-Übertragungswagen und dem Mustang, der vermutlich Ann Yanni gehörte, vorbei zum Aufzug. Er drückte den Rufknopf
Weitere Kostenlose Bücher