Jack Reacher 09: Sniper
und wartete. Sah auf seine Uhr. Halb sechs. Die meisten Leute würden jetzt das Gebäude verlassen. Ein nach unten fahrender Aufzug würde bestimmt im Erdgeschoss halten. In Gegenrichtung vielleicht nicht. Hoffentlich nicht.
Die Kabine kam unten an. Drei Personen stiegen aus. Reacher stieg ein. Drückte den Knopf mit der Drei. Trat einen Schritt zurück. Die Kabine fuhr eine Etage höher und hielt. Im Erdgeschoss. Die Aufzugtür öffnete sich wie ein Theatervorhang. Draußen stand der Cop: eineinviertel Meter vom Aufzug entfernt, beide Arme in die Hüften gestemmt, mit dem Rücken zur Kabine. Reacher hätte ihn fast berühren können. Ein Mann stieg zu. Er sagte nichts. Nickte nur einen Zwei-Kerle-in-einem-Aufzug-Gruß. Reacher nickte seinerseits. Der Kerl drückte die Sieben. Die Tür blieb offen. Der Cop hatte die Straße im Blick. Der Neuankömmling drückte den Knopf mehrmals. Der Cop bewegte sich. Er nahm seine Schirmmütze ab und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Die Tür schloss sich. Der Aufzug fuhr nach oben.
Reacher stieg im dritten Stock aus und ging durch eine kleine Gruppe von Leuten, die auf dem Nachhauseweg waren. Die Tür von Helen Rodins Bürosuite stand offen. Er trat ein, und Helen schloss sie hinter ihm. Heute trug sie einen kurzen schwarzen Rock und eine weiße Bluse. Darin sah sie fast wie ein Schulmädchen aus. Und sie wirkte besorgt. Wie von widersprüchlichen Gefühlen zerrissen.
»Ich müsste Sie der Polizei übergeben«, sagte sie.
»Aber Sie tun’s nicht«, entgegnete Reacher.
»Nein«, sagte sie. »Ich müsste, aber ich tu’s nicht.«
»Tatsächlich habe ich die Kleine gemocht«, meinte Reacher. »Sie war eine süße Göre.«
»Sie hat Sie in eine Falle gelockt.«
»Ich bin nicht nachtragend.«
»Irgendjemand hat sie nicht gemocht.«
»Schwer zu beurteilen. Gefühle haben dabei keine Rolle gespielt. Sie war entbehrlich, das war alles. Ein Mittel zum Zweck.«
»Der Drahtzieher will Sie wirklich aus der Stadt weghaben.«
Reacher nickte. »Das steht fest. Aber da hat er Scheißpech, denn jetzt bleibe ich erst recht hier. Dafür hat er selbst gesorgt.«
»Ist es nicht gefährlich zu bleiben?«
»Nicht übermäßig. Aber diese Sache mit dem Mädchen wird meinen Aktionsradius einschränken. Deshalb werden Sie den größten Teil der Arbeit übernehmen müssen.«
Helen führte ihn durchs Vorzimmer in ihr Büro. Sie setzte sich an den Schreibtisch. Er achtete darauf, sich vom Fenster fernzuhalten, und hockte sich mit dem Rücken zur Wand auf den Fußboden.
»Ich habe schon mit der Arbeit angefangen«, erklärte Helen. »Ich habe mit Rosemary gesprochen und Barrs Nachbarn aufgesucht. Dann war ich noch einmal im Krankenhaus. Ich glaube, wir suchen einen Kerl namens Charlie. Ziemlich klein, borstiges schwarzes Haar. Interessiert sich für Waffen. Meinem Eindruck nach ein Heimlichtuer. Er dürfte schwer aufzuspüren sein, vermute ich.«
»Wie lange ist er schon auf der Bildfläche?«
»Anscheinend seit fünf bis sechs Jahren. Er ist der einzige langjährige Freund, den irgendwer mit Namen kannte. Und der Einzige, zu dem Barr sich bekennt.«
Reacher nickte erneut. »Klingt logisch.«
»Und Barr kennt Jeb Oliver nicht und nimmt auch keine Drogen.«
»Glauben Sie ihm das?«
»Ja, das tue ich«, antwortete Helen. »Wirklich! Im Augenblick glaube ich alles, was er sagt. Er kommt mir wie ein Mann vor, der vierzehn Jahre damit verbracht hat, seinem Leben eine neue Wendung zu geben, und jetzt nicht glauben kann, dass er rückfällig geworden ist. Ich habe den Eindruck, dass er ebenso betroffen ist wie alle anderen.«
»Weniger als die Opfer.«
»Geben Sie ihm eine Chance, Reacher. Hier ist irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugegangen.«
»Weiß dieser Kerl namens Charlie von Kuwait City?«
»Darüber wollte Barr nicht reden. Aber ich denke, er weiß Bescheid.«
»Wo wohnt er?«
»Das weiß Barr nicht.«
»Er weiß es nicht?«
»Die beiden treffen sich nur gelegentlich. Charlie kreuzt ab und zu bei ihm auf. Er dürfte wie gesagt schwierig zu finden sein.«
Reacher schwieg.
»Haben Sie mit Eileen Hutton gesprochen?«, fragte Helen. »Von ihr droht keine Gefahr. Die Army hält den Fall unter Verschluss.«
»Haben Sie den Kerl gefunden, der Sie beschattet hat?«
»Nein«, sagte Reacher. »Ich habe ihn nicht wieder gesehen. Sie müssen ihn abgezogen haben.«
»Dann sind wir so weit wie zuvor.«
»Nein, wir sind näher dran. Wir können jetzt schon Umrisse erkennen und
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