Jack Reacher 09: Sniper
Er drückte die Schlosszunge mit seinem Daumen hinein und klemmte sie in dieser Stellung mit dem zusammengefalteten Kartonstück fest. Dann schloss er vorsichtig die Tür, drückte sie mit der flachen Hand zu und ging davon: an einem Müllbehälter vorbei, über den Personalparkplatz, auf die Straße hinaus und weiter nach Norden. Es waren viele Leute unterwegs, und der Verkehr begann sich zu stauen. Er behielt ein unauffälliges Tempo bei und nutzte seine Größe, um in mittlerer Entfernung Ausschau nach Streifenwagen und Cops an Straßenecken zu halten. Der Tag war noch warm. Irgendwo dort draußen lag ein Hochdruckgebiet. Der hohe Luftdruck begünstigte eine Inversionswetterlage, die den Geruch von feuchter Erde und Stickstoffdünger in Bodennähe festhielt.
Er erreichte den aufgeständerten Highway und bog in seinem Schatten nach Westen ab. Die Fahrbahn führte auf zwölf Meter hohen Stelzen über ihn hinweg. Unter ihr lagen ungepflegte Grundstücke, manche unbebaut und voller Müll, andere mit alten Klinkerbauten, wieder andere mit neuen Blechkästen für Fitnessstudios und Lackierereien. Er ging hinter dem schwarzen Glasturm vorbei, blieb im Schatten der Hochstraße und wandte sich nach Süden, um die Rückseite der Stadtbibliothek zu passieren. Dann blieb er plötzlich stehen, bückte sich und fummelte an einem Schuh herum. Als wäre ihm ein Stein hineingeraten. Sah dabei unter dem Arm hindurch, ohne jemanden zu entdecken. Keinen Beschatter.
Er ging weiter. Nach der Bibliothek war er vierzig Meter weit exponiert. Die Plaza lag östlich von ihm. Er blieb kurz stehen, als er sich genau unterhalb der Stelle befand, an der Helen Rodin am Vortag geparkt hatte – und an der James Barr am Freitag hätte parken sollen. Zwölf Meter tiefer war die Perspektive verändert, aber der Blick blieb gleich. Er konnte die verwelkten Erinnerungsgaben am Südrand des Zierteichs sehen – kleine verblasste Farbkleckse in der Ferne. Dahinter lag der Eingang des DMV-Gebäudes, aus dem jetzt Leute kamen: einzeln und in Zweiergruppen. Er schaute auf seine Uhr. Zehn vor fünf.
Er überquerte die freie Fläche und erreichte den nördlichsten Block der First Street. Er holte einen Block weit nach Süden aus, lief drei Blocks weit nach Osten und gelangte von Westen zu dem Parkhaus. Er ging die Einfahrtsrampe hinauf, blickte sich suchend um und entdeckte das Objektiv der Überwachungskamera. Es war ein kleiner Kreis aus schmutzigem Glas an der Vorderseite eines einfachen schwarzen Kastens, der ziemlich hoch in einem von zwei Stahlbetonträgern gebildeten Winkel festgeschraubt war. Er winkte in die Kamera. Sie war viel zu hoch angebracht. Im Idealfall hätte sie auf Höhe der meisten Autokennzeichen hängen müssen. Aber unter Taillenhöhe waren alle Pfeiler verkratzt und zerschrammt. Ein Regenbogen aus Lackspuren. Viele Autofahrer passten nicht auf. Eine niedriger angebrachte Kamera hätte nur anderthalb Tage überdauert. Vielleicht sogar weniger.
Er stieg die Rampen zur zweiten Ebene hinauf. Hielt nach Nordosten auf die hinterste Ecke zu. Das Parkhaus war voll, aber still und ruhig. Der Stellplatz, den James Barr benützt hatte, war besetzt. Die Parkplatzknappheit in der Innenstadt bot keinen Raum für Gefühle. Keinen Raum für Ehrfurcht.
Eine Barriere aus drei Absperrbändern markierte die Grenze zwischen dem alten Parkhaus und dem neuen Anbau. In der Mitte hing das übliche schwarz-gelbe Plastikband mit dem Aufdruck »Baustelle – Betreten verboten«. Darüber und darunter waren neue blau-weiße Bänder mit dem Aufdruck »Polizeiabsperrung – Überschreiten verboten« gespannt. Er drückte alle drei Bänder mit einem Arm hoch und schlüpfte darunter hindurch. Nicht nötig, sich auf ein Knie niederzulassen. Nicht nötig, sich die Jeans abzuwetzen. Nicht nötig, eine Menge Textilfasern zurückzulassen. Nicht einmal für einen Typen, der fünfzehn Zentimeter größer war als Barr, und nicht einmal, obwohl das unterste Band jetzt fünfzehn Zentimeter tiefer hing. Er hat sich buchstäblich alle Mühe gegeben, möglichst viele Spuren zu hinterlassen.
Reacher ging ins Halbdunkel weiter. Der Grundriss des neuen Anbaus war rechteckig. Ungefähr fünfunddreißig Meter in Nord-Süd-Richtung, zirka hundertachtzig Meter in Ost-West-Richtung. Was bedeutete, dass Reacher die neue Nordostecke mit fünfunddreißig Schritten erreichte. Er blieb zwei Meter hinter der Brüstung stehen und sah nach rechts unten. Der Blick war einwandfrei. Nicht
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