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Jack Taylor auf dem Kreuzweg

Jack Taylor auf dem Kreuzweg

Titel: Jack Taylor auf dem Kreuzweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Bruen
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wurde, dass sie immer noch lebte. Sie hatte nicht gewusst, ob sie erleichtert war oder nicht.
    Dann hatte sie ihren Vater gesehen, er saß auf dem harten Stuhl an ihrem Bett und hielt Wache. Sein Kopf war nach vorn gesunken, aus seinem Mund kam ein bisschen Sabber, was ihn alt aussehen ließ. Auf dem Kopf hatte er eine kahle Stelle, noch war sie kaum zu bemerken, aber der Haarausfall hatte begonnen, unaufhaltsam. Seine ganze Körperhaltung sprach von Niederlage. Das Mädchen hatte ihn durch seine vielen Stimmungen hindurch gekannt – zornig, frustriert, gramgebeugt –, aber nie, nie hatte er aufgegeben.
    Wenn sie sich regte, wusste sie, wachte er auf, und sie brauchte noch etwas Zeit, bevor das geschah. Sie lag vollkommen still, ihr Mund trocken, ihr Körper schwach. Aber etwas war anders. Sie konnte eine dunkle Energie über sich spüren, die darauf wartete, herbeibefohlen zu werden. In jenen Tagen nach der Tragödie, als sie untröstlich gewesen war, hatte sie begonnen, den Verstand zu verlieren. Sie spielte sich immer wieder vor, wie ihre Mutter sich gefühlt haben musste – diese Momente vor dem Ende. Und allein – ihre Mutter hätte das gehasst.
    Das Mädchen hatte einen Vorrat von Mutters Schlafpillen gehortet, und auf der Straße hatte sie sich noch einen ganzen Batzen anderes Zeug besorgt. Sie saß auf ihrem Zimmer, die Pillen aufgereiht, wie winzige Soldaten, die auf ihre Befehle warteten. Sie mochte die Farben, viel Gelb, Rot und Blau – Blau, die Lieblingsfarbe ihrer Mutter. Und der Truppentransporter war eine Flasche Wodka. Sie nahm einen ordentlichen Schluck, dann … eene, meene, muu … nehmen wir eine blaue, dann eine rote … und warum nicht zwei gelbe, noch ein Schlückchen Wodka. Sie spürte, wie der rohe Alkohol ihren Magen aufleuchten ließ, hörte, wie die Stimme in ihrem Kopf fragte: »Bringst du dich jetzt um?«
    Und die andere Stimme, noch im Kindesalter – die Stimme aus dem Dunkel –, antwortete: »Ich will nur, dass der Schmerz aufhört.«
    Dieser allumfassende Kummer hatte sie in stiller Qual aufjaulen lassen, den Kopf zurückgeworfen, den Mund weit offen, aber lautlos, wie eine stumme Hyäne. Ihr Bruder hatte sie so angetroffen und war verängstigt zurückgeschreckt, konnte oder wollte sie nicht zu trösten versuchen. Die Stimme des Mädchens, die Stimme ihrer Kindheit, versuchte es ein letztes Mal, während das Mädchen drei rote schluckte – so schöne Farben –, noch ein bisschen Alkohol, und diese junge Stimme sagte: »Selbstmord ist ewige Verdammnis.«
    Die Stimme aus dem Dunkel spuckte zurück: »Und das, das hier … so, wie ich bin, ein zitterndes Bündel aus Kummer und Qual … ist das etwa nicht die reine Verdammnis?«
    Sie erinnerte sich an nichts weiter danach, nur dass die Stimme aus dem Dunkel höhnisch sagte: »Jetzt herrschen wir.«
    Wo sie auch gewesen war, an diesem leeren Ort zwischen Leben und Tod war es gewesen, wo die Übertragung begonnen hatte. Die Dunkelheit war stärker geworden, hatte ihr altes Selbst ausgehöhlt. Sie atmete tief aus, als vertriebe sie die letzten Überbleibsel des Mädchens, das sie gewesen war, und – dachte sie mit äußerster Verachtung – des Schwächlings, der sie gewesen war.
    Damit war Schluss.
    Sollen die Schatten herrschen. Man lasse das Schreckgespenst der Vergeltung und wildwütigen Rache herein.
    Da hatte sie, aus ihrem peripheren Blickfeld, bemerkt, dass Flammen sich in der Ecke des Zimmers zu bilden begannen, obwohl, wenn sie direkt hinsah, dort nichts war. Sie quiekte aus schierem Entzücken.
    Das Geräusch hatte ihren Vater geweckt. Er hatte sich plötzlich aufgesetzt, das Gesicht alarmiert – und dann erleichtert, als ihm klar wurde, dass sie wieder da war.
    Hätte er nur gewusst.
    Er hatte ihre zierliche Hand in seine großen Fäuste genommen, sie gequetscht und gesagt: »Sag mir, Baby, sag mir, was ich tun kann, um zu helfen.«
    Sie hatte sich aufgesetzt, durchströmt von einer Stärke, die sie nie zuvor gehabt hatte, und ihm genau gesagt, was sie wollte. Mit einem köstlichen Gefühl von Macht hatte sie auf seinem Gesicht das Entsetzen über ihren Vorschlag gesehen. Die Klarheit ihres Denkens, in diese neue Dunkelheit gehüllt, war belebend gewesen.
    Er hatte all ihren Plänen zugestimmt, obwohl sie deutlich sehen konnte, dass er vom biblischen Ausmaß ihrer Vision abgestoßen war. Aber er war so erleichtert gewesen, sie wiederzuhaben, dass er allem zugestimmt hätte.
    Nachdem er gegangen war, hatte sie sich in

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