Jack West 02 - Die Macht der sechs Steine
DEZEMBER 2007
Die Halicarnassus überquerte den Himalaja und drang in chinesischen Luftraum ein. Ihre schwarze, Radarstrahlen absorbierende Lackierung und ihre unregelmäßig verwinkelten Flanken sorgten dafür, dass sie auf keinem Radar in der Gegend auftauchte. Gegen Ortungen durch modernere, satellitengestützte Systeme war ihre Ausrüstung allerdings machtlos.
Bald nachdem sie in Dubai abgeflogen waren, hatte sich West an die beiden neuesten Mitglieder seines Teams gewandt, den Amerikaner Astro und den saudischen Spion Vulture: »Also, Gentlemen, es ist an der Zeit, dass Sie mir sagen, was Sie wissen. Über das Xintan-Gefängnis.«
Der junge amerikanische Lieutenant antwortete mit einer Gegenfrage: »Sind Sie sicher, dass dieses Vorgehen hier das richtige ist? Sie scheinen doch ganz prima ohne diesen Wizard klarzukommen. Warum konzentrieren wir uns nicht direkt auf die Steine und die Säulen? Wenn wir nach diesem Wizard suchen, wird das doch bestenfalls die Chinesen gegen uns aufbringen.«
Jack antwortete: »Ich weiß lediglich das, was Wizard mir gesagt oder aufgeschrieben hat. Aber nur mit dem unendlichen Wissen, das in seinem Gehirn gespeichert ist, können wir diese Sache überstehen. Das allein ist es schon wert, die Chinesen gegen uns aufzubringen. Und dann gibt es noch einen Grund.«
»Und der wäre?«
»Wizard ist mein Freund«, entgegnete West unmissverständlich. Genau wie Fuzzy mein Freund war, dachte er, und was ist ihm nur passiert! Mein Gott!
»Sie würden also unser aller Leben und die Sicherheit unserer Länder aufs Spiel setzen, nur um Ihrem Freund zu helfen?«
»Ja«, antwortete Jack, ohne zu zögern. In seinem Kopf tauchte plötzlich das Bild von Fuzzys Kopf auf - eines Freundes, den er nicht hatte retten können.
»Na, das nenne ich mal wahre Freundschaft«, stichelte Astro. »Werden Sie diese Risiken auch für mich eingehen, falls ich in Schwierigkeiten komme?«
»So gut kenne ich Sie noch nicht«, gab West zurück. »Ich sag's Ihnen später, wenn Sie durchgekommen sind. Was ist nun mit dem Gefängnis?«
Vulture breitete einige Karten und Satellitenfotos aus, die er vom saudi-arabischen Geheimdienst mitgebracht hatte. »Xintan, wo die Chinesen Professor Epper und Tanaka festhalten, ist ein Arbeitslager, ein Internierungslager der Kategorie Vier im äußersten Westen der Provinz Sichuan.
Es ist eine Anstalt speziell für politische Gefangene und andere Häftlinge mit höchster Sicherheitsstufe. Die Gefangenen werden beim Graben von Tunneln und Pässen für die chinesischen Gebirgseisenbahnstrecken eingesetzt, zum Beispiel für die Quinghai- Tibet-Linie, die sogenannte »Dach der Welt«-Bahn. Die Chinesen sind Weltmeister im Eisenbahnbau. Sie haben Gleise über, unter und durch die bergigsten Regionen der Erde gebaut, und viele davon verbinden das Kernland mit Tibet.«
An dieser Stelle meldete sich Pooh Bears Bruder Scimitar: »Sie benutzen die neuen Eisenbahnstrecken, um Tibet mit chinesischen Arbeitern zu überschwemmen. Sie wollen die ursprünglichen Einwohner durch schlichte Überbevölkerung auslöschen. Es ist eine neue Form des Genozids. Ein Genozid durch erdrückende Einwanderung.« Jack schätzte Scimitar ab. Seinem Bruder hätte er nicht unähnlicher sein können. Pooh Bear war rundlich, vollbärtig und bodenständig, Scimitar dagegen schlank, rasiert und kultiviert. Er besaß hellblaue Augen, eine olivfarbene Haut und einen Oxford-Akzent. Jack fiel auf, dass er den chinesischen Eisenbahnbau in einen politischen Kontext gestellt hatte.
»Auf jeden Fall«, fuhr Vulture fort, »ist der Bau dieser Eisenbahnen eine ziemlich gefährliche Angelegenheit. Viele Arbeiter sterben dabei und werden einfach im Zementbett begraben. Epper wurde wegen der dortigen Verhörmethoden und Auswertung von Erkenntnissen nach Xintan gebracht.«
»Folterkammern?«, fragte West.
»Folterkammern«, bestätigte Vulture.
»Xintan ist geradezu berüchtigt für seine Foltermethoden«, ergänzte Astro. »Ob nun Anhänger von Falun Gong, protestierende Studenten, tibetische Mönche - sie alle sind in Xintan >um-erzogen< worden, wie die Chinesen es nennen. Seine geographische Lage macht Xintan schlichtweg zu einem perfekten Ort für Verhöre. Xintan ist nämlich nicht nur auf einem, sondern gleich auf zwei Berggipfeln erbaut, die die Teufelshörner genannt werden.
Xintan Eins, das Hauptgebäude, liegt auf dem höchsten Gipfel und ist angebunden durch eine Gebirgseisenbahn, die durch ein riesiges
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