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Jacob beschließt zu lieben - Roman

Jacob beschließt zu lieben - Roman

Titel: Jacob beschließt zu lieben - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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nichts bei sich, nicht einmal ein kleines Bündel. Als man ihn im ausgetrockneten Brunnen hinter dem Haus entdeckt hatte, hatte man die Mutter nicht zu ihm durchgelassen. Er hatte Glück gehabt, nicht in den Krieg ziehen zu müssen, er hatte ein verkürztes Bein. «Ein Sonntagskind», hatte seine Mutter gesagt. Er würde immer Glück haben, hatte sie ihm prophezeit. Mit den Russen aber hatte sein Glück nicht gerechnet.
    Im ganzen Waggon hatten sich kleine Gruppen gebildet, die mal flüsternd, mal laut unsere Lage erörterten. Fast immer war der Befund ausweglos. Entweder ließ man uns erst in Sibirien oder vielleicht schon in der Ukraine aus den Viehwaggons heraus. «Aber das macht auch keinen großen Unterschied mehr», sagte ein ehemaligerSoldat, der erst vor Kurzem von der Front zurückgekehrt war. «Egal, wo wir sterben, begraben kann man uns erst im Frühling. Die Erde ist zu hart.» Er begann über seinen Russlandfeldzug zu erzählen, aber man bat ihn bald, wieder aufzuhören. Niemand war mehr an seinem Krieg interessiert. Seine Erinnerungen wollte keiner mehr hören.
    Petru war eingeschlafen, sein Kopf lehnte an meinem Arm. Mit dem Bild der zwei Gestalten unter der Laterne vor Augen wurde auch ich müder, und ich schlief ein, begleitet vom Flüstern, vom Stöhnen des Verbrannten und vom mechanischen, regelmäßigen Rattern.
    Ich erwachte, weil mein ganzer Körper schmerzte. Mein Kopf lag auf dem Rücken eines Mannes, der Soldat benutzte meine Füße als Kissen. Langsam zog ich sie unter seinem Kopf heraus, dann richtete ich mich auf. Es gab überhaupt keinen freien Platz mehr, Frauen und Männer lagen in einem völligen Durcheinander da. Es wurde geschnarcht, die Luft war schal und stickig. Ich sah hinaus, aber außer der weißen Ebene und einem finsteren Himmel war nichts zu sehen.
    Ich konnte auch nicht sagen, wie spät es war, die Russen hatten uns noch im Lastwagen die Uhren abgenommen. Aber am Horizont war bereits ein schmaler Spalt zu erkennen, durch den der Tag in die Nacht schlüpfen und sie auflösen würde. Als ich das zweite Mal erwachte, war es schon hell. Einige der Frauen versuchten, sich mit etwas Wasser aus einer Flasche zu waschen, aber man hielt sie davon ab, weil man das Wasser zum Trinken aufheben wollte. Man wollte lieber stinken als verdursten. Dabei lag draußen so viel Schnee, einige Minuten hätten gereicht, wenn die Russen nur die Türen aufgemacht hätten.
    Wie lange der Zug stillstand, konnte niemand sagen, ebenso wenig, wo wir uns befanden. Einige teilten sich den kargen Proviant, andere, die nichts hatten, starrten nur gierig darauf. Petru streckte sich und zog das Tuch aus der Tasche, in das er die Essensreste gewickelt hatte. Die beiden Töchter versuchten, ihrem Vater den Schmerz zu lindern. Auch sie starrten sehnsüchtig auf den Schnee, aber nicht, weil sie trinken, sondern weil sie damit die Wunde kühlen wollten.
    Der Zug bewegte sich den ganzen Tag nicht von der Stelle. Als ich in der zweiten Nacht kurz erwachte, waren wir aber in voller Fahrt, wenn auch nicht für lange. Bei einem Halt mitten auf dem Feld standen wir wieder viele Stunden lang nur da, und uns blieb nichts anderes übrig, als auf das öde, abgestorbene Land zu starren.
    Um Petru von seiner Angst abzulenken, erzählte ich ihm eine von Raminas Geschichten. Jene über Gott, die Teufel und alles dazwischen. Einst hatte Gott den Himmel – in dem damals auch die Teufel wohnten – von der Erde weggerückt, weil er das Jammern der Menschen nicht mehr hören konnte. So entstand der
V zduh
, die Gegend zwischen Himmel und Erde, die von vielen guten und bösen Wesen bevölkert wurde. Eines Tages lieferte sich Gott einen schlimmen Kampf mit den Teufeln, manchmal sah es so aus, als würden sie ihn bezwingen. Aber Gott siegte und warf die Teufel aus dem Himmel. Während sie durch den V zduh hinunterfielen, blieben je zwei von ihnen an zwölf Stellen hängen.
    «Wie schafften sie das?», wollte Petru wissen.
    «Ich weiß es nicht, das hat mir Ramina nie erzählt. Aber die können das, es sind doch Teufel», sagte ich.
    Weil die Teufel sehen mussten, wie sie durchkamen, errichtetensie zwölf Zollstellen. Wer zu Gott wollte, musste zuerst diese Stellen passieren und die Teufel bestechen. Zwölfmal mussten sich die toten Seelen den Teufeln stellen und sie überreden, verführen. Zwölfmal musste sich die Seele bewähren, sonst kriegten die Teufel sie. Das war ihre Rache an Gott.
    «Wieso redest du dauernd über lauter

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