Jacob beschließt zu lieben - Roman
mitzugeben. Wer nichts dabeihatte, was er an den Zug bringen wollte, stand einfach nur da. Die anderen versuchten, die Russen mit Armbanduhren und Zigaretten zu bestechen.
Manchmal ließ ein Soldat ein paar von ihnen durch, während er seine Beute begutachtete. Die Leute liefen amZug entlang und riefen irgendwelche Namen, oft wurde ihnen auch geantwortet. Letzte Worte wurden gewechselt, letzte knappe Berührungen ausgetauscht, dann kehrte jeder mit dem, was man ihm gegeben hatte, an seinen Platz zurück.
Es sollten noch Stunden vergehen, bis wir endlich abfuhren. Lastwagen kamen nur noch selten an. Ich kaute auf einer Brotrinde herum, während viele sich nicht sattsehen konnten und die Tür belagerten. Sie starrten die vor dem Bahnhof ausharrenden Gestalten an, und diese starrten zurück. Ein Abschied, der sich ins Unendliche dehnen wollte.
Nur die Kommandos der Russen waren zu hören. Manchmal rief einer von uns nach jemandem auf der Straße, und gelegentlich wurde ihm geantwortet. Man lauschte, als ob das ganze Leben davon abhinge. Ich rief nicht, denn es gab niemanden, der mich hätte hören können. Höchstens strich ich mit der Hand über den Pullover, gedankenverloren.
Außerdem war ich zum ersten Mal in meinem Leben vor allem mit meiner Zukunft beschäftigt, die mir alles andere als angenehm erschien. Denn erst durch jene Ereignisse, die mich aus der Kindheit in etwas anderes katapultierten, das mir noch unbekannt war, hatte ich eine konkrete Zukunft erhalten. Eine sehr ungewisse, aber eine, die mich gänzlich erfasst hatte und wie der Strom die Böschung, die er umspült hat, wegtrug.
Als sich der Zug ruckartig in Bewegung setzte, waren seit Langem die Türen schon verriegelt. Erneut waren ein Raunen, aber auch Schreie zu hören. Wir hatten uns so sehr ans Warten und an die Wärme der zusammengepferchten Körper gewöhnt, dass wir schläfrig gewordenwaren. Mir war fast wohlig geworden wie damals, als ich, an Raminas Fleisch gepresst, den schmalen Himmel vor ihrem Fenster betrachtet hatte. Dabei hatte ich die Augen geschlossen, ihr Herz oder doch nur meines schlagen gehört, mein Atem hatte sich an ihren angeglichen, und ich hatte nicht mehr gewusst, wo ich aufhörte und wo sie begann.
Die plötzliche Bewegung aber erinnerte uns daran, dass nun etwas seinen Lauf nahm, auf das wir keinen Einfluss hatten. Der Zug gewann langsam an Fahrt, wir passierten bereits die letzten Bahnhofsgebäude, als ich unter der schwachen Lampe am Ende des Gleises zwei Gestalten entdeckte. Die eine trat ein paar Schritte vor und blieb wie eine Puppe stehen, die man scheinbar grundlos dort abgestellt hatte. Vielleicht war ich nur einer unter vielen, die an einem Guckloch standen und dasselbe hoffte. Aber das war mir jetzt egal, denn ich wusste, dass keiner so überzeugend leblos dastehen konnte wie Mutter.
Wir fuhren durch eine kahle, winterliche Landschaft, in der die verschneiten Dächer der Bauernhäuser wie Hüte aussahen. Ich kauerte mich wieder neben den blonden, schmalen Jungen, der, obwohl er Petru Großtat hieß, kein Wort Deutsch sprach. In meinem Waggon waren nur Menschen, die ich noch nie gesehen hatte, Männer, die gerade erst aus dem Krieg zurückgekehrt waren und in aller Eile die deutsche Uniform verbrannt hatten. Andere hatten noch vor Kurzem die Schulbank gedrückt und den Acker bestellt.
Bevor man die Waggontüren verriegelt hatte, war noch ein Mann mit seinen Töchtern hineingestoßen worden. In seiner Wange war ein Einschussloch, Ohr und Haare warenauf dieser Seite versengt. Seine Töchter drückten Tücher, die sie mit Schnaps beträufelten, auf die Wange. Sein Schmerz sollte uns die ganze Zeit begleiten. Wir alle starrten auf die Stelle, an der sich die Haut wie eine schwarze Blüte ausfranste. Es wirkte wie eine Drohung, eine Ankündigung von Dingen, denen wir unaufhaltsam entgegenfuhren.
Petru war voller Angst. Seinen spärlichen Erklärungen nach hatte er gar nicht gewusst, dass er Deutscher war. Sein Vater hatte eine Rumänin geheiratet, nur sein Name war deutsch. Dann war der Vater gestorben, doch seine Mutter hatte den Nachnamen behalten. Petru wusste weder, wo Deutschland lag, noch was dieses Deutschland, zu dem er nun auf einmal gehörte, in den letzten Jahren angerichtet hatte. Er konnte nicht glauben, dass sein Name gereicht hatte, um ihm dieses Schicksal zu bereiten.
Ich reichte ihm ein Stück Brot und Käse, er aß etwas davon, und den Rest wickelte er in ein Tuch für später. Er hatte
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