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Jacob beschließt zu lieben - Roman

Jacob beschließt zu lieben - Roman

Titel: Jacob beschließt zu lieben - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Teufel? Unser Pfarrer hat immer gesagt, dass es nur einen gibt», meinte Petru.
    «Ramina sagte, es sind genau vierundzwanzig. Einer allein würde mit der Arbeit kaum nachkommen.»
    Ich redete unentwegt, ich wurde heiser davon, aber auch ruhiger. Es war mir, als wäre Ramina mit im Waggon. Doch nicht allen gefielen meine Geschichten, zu sehr schien unsere Zukunft aus dem Stoff dieser Geschichten gemacht. Petru hätte sich gern einen anderen Platz ausgesucht, wenn es ihn nur gegeben hätte.
    Wir waren seit mehreren Tagen unterwegs, allmählich verschwammen für mich Zeit und Raum. Obwohl ich wusste, dass wir noch nicht weit genug gefahren waren, um schon in Russland zu sein, schien es mir doch in jedem Augenblick so weit zu sein. Oder es kam mir so vor, dass sich Rumänien unendlich weit ausdehnte und uns vor dem, was uns anschließend erwartete, in Schutz nahm.
    Zu selten wurden die Waggontüren geöffnet, damit wir unsere Notdurft verrichten konnten. Mit Petrus Taschenmesser vergrößerten wir einen Spalt im Waggonboden zu einem Loch. Wenn eine Frau musste, stellten sich die anderen Frauen um sie herum und sangen Lieder, die wir alle vom Soldatensender kannten. Für irgendetwas waren diese Lieder immer noch gut. Wenn ein Mann an derReihe war, taten die anderen Männer dasselbe. Wir gingen unser ganzes Repertoire durch, und mir kam es so vor, als würde ich mit Großvater wieder Radio hören. Die meisten aber hatten ihre Scham noch nicht überwunden, sie zogen es vor, unter Schmerzen durchzuhalten, als sich vor so vielen Ohren und Augen zu erleichtern. Andere hatten die Lektion schneller gelernt.
    In einer Nacht schlüpfte ich durch dieses Loch, dessen Ränder verschmutzt und glitschig waren, zurück in die Freiheit. Ich hatte bemerkt, dass die Bewachung des Zuges bei den Halten lasch war und dass unser Waggon meist weit vor dem Bahnhof, auf freiem Feld, zu stehen kam. Die Russen bemühten sich gar nicht, aus ihren geheizten Waggons herauszukommen, für sie saßen wir offenbar unentrinnbar in der Falle.
    Weil ich für mein Vorhaben Petrus Messer brauchte, weihte ich ihn darin ein. Sobald der Zug anhalten würde und das Loch groß genug wäre, würden wir uns hindurchfallen lassen und uns zwischen den Bohlen flach hinlegen, bis der Zug wieder abfahren würde. Nacheinander bearbeiteten wir das Loch mit dem Klappmesser, bis Kopf und Rumpf hindurchpassten, danach warteten wir auf eine günstige Gelegenheit. Ich weiß nicht, wie viele wach lagen und uns beobachteten, sich ihre eigenen Chancen ausrechneten, auf diese Art zu entkommen. Und ich weiß ebenso wenig, wie viele es nach Petru und mir tatsächlich getan haben.
    Unter uns zogen die Schienen vorbei und hoben sich als dunkle Linien vom Schnee ab, der matt schimmerte. Sie wiesen in eine Vergangenheit, die gar nicht weit zurücklag und doch schon lange her zu sein schien. Meine Hände froren, ich konnte sie kaum noch spüren. An vielenStellen hatte ich Schürfwunden und Schnitte. «Bereits wenn er verlangsamt, lässt du dich mit den Beinen gegen die Fahrtrichtung auf den Rücken fallen. Wir sind dann weit genug vom Bahnhof entfernt. Du musst aufpassen, dass du nicht zwischen die Zugräder kommst», sagte ich ihm.
    Meine Kräfte ließen mich fast im Stich. Als der Zug langsamer wurde, die Lokomotive pfiff und wir dachten, dass nun ein Bahnhof käme, schob ich mich durch das Loch und stemmte mich auf die Arme. Ich hatte mir keine Gedanken darüber gemacht, ob sie mich überhaupt tragen würden, wo ich nicht einmal den Sack bis zu Ramina hatte tragen können.
    «Du wirfst mir sofort den Sack nach, dann kommst auch du, nicht wahr?», fragte ich Petru. Er zögerte, kämpfte kurz mit sich selbst, dann schien er sich entschieden zu haben.
    «Ich werfe den Sack nach, aber ich komme nicht mit. Es ist mir zu gefährlich», flüsterte er.
    Meine ersten vorsichtigen Versuche misslangen, und ich dachte schon ans Aufgeben. Ich wollte es ein letztes Mal probieren, doch wenn ich mich nicht beeilte, wäre es bald zu spät gewesen. Ich landete hart auf der Kante einer der Bohlen, und ein stechender Schmerz breitete sich in mir aus. Ich blieb vorerst liegen, die Arme eng an den Körper gepresst. Ich war wie betäubt vor Schmerz, doch es gelang mir, aufzustehen und zu der dunklen Gestalt zu humpeln, die zwischen den Schienen lag.
    Als ich nach meinen Habseligkeiten greifen wollte, hörte ich einen Schrei von weiter vorn, der, obwohl er nichts Menschliches hatte, von einem Menschen stammen

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