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Jacob beschließt zu lieben - Roman

Jacob beschließt zu lieben - Roman

Titel: Jacob beschließt zu lieben - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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du gar nicht so mager. In den Briefen, die manche im Dorf erhalten haben, heißt es immer, dass ihr ständig hungrig gewesen seid.»
    «Man hat mir mehr zu essen gegeben als anderen, damit ich arbeiten konnte.»
    «Was hast du tun müssen?»
    «Tote begraben.»
    Mutter schreckte zurück und bekreuzigte sich. «Du hast also die anderen begraben müssen, die gestorben sind?»
    «Sozusagen.»
    «Ein Totengräber», murmelte Vater.
    «Besser das Grab für andere schaufeln, als selbst darin zu liegen», erwiderte Mutter. «Sind mit dir auch andere zurückgekommen?»
    «Kein Einziger. Ich wurde früh von ihnen getrennt und in ein anderes Lager gebracht.»
    «Man wird dir jetzt viele Fragen stellen», sagte sie. Sie presste den Pullover an ihren Körper und streichelte ihn der Länge nach. «Nicht einmal ein Loch hat er. Jetzt gehe ich ins Haus und wasche ihn, damit du ihn wieder anziehen kannst. Morgens ist es immer noch kühl.» Sie ging zum Gesindehaus und verschwand darin.
    Ich blieb allein mit Vater draußen stehen, doch im Rücken spürte ich die Blicke von Sarelo und seiner Frau durchs Fenster. «Sie beobachten uns dauernd. Sie trauen ihrem Glück noch nicht, obwohl die Kommunisten sie beschützen», sagte Vater mürrisch. «So sieht es bei vielen Schwaben aus. Sie wohnen im Gesindehaus und die Knechte von einst in den Häusern. Wenn ich Holz brauche, muss ich bei ihm betteln.» Mit einer Kopfbewegung deutete er auf das Fenster, hinter dem das schwache Licht einer Petroleumlampe zu sehen war. «Inzwischen haben wir hier auch Strom, aber er kann sich die Kosten nicht leisten. Der Zigeuner. Das ist der Dank dafür, dass ich ihn bei mir aufgenommen habe.» Die Dämmerung griff um sich.
    «Du hast ihn aufgenommen, weil er dein Sohn ist und du ihn gut brauchen konntest. Mehr als mich», sagte ich.
    «Du hast es also erfahren. Umso besser, denn es spielt jetzt keine Rolle mehr. Ich bin mir gar nicht mehr so sicher, dass er es ist. Die Zigeunerin hat so viele Geschichten erzählt, dass nicht einmal sie wusste, was real und was erfunden war. Außerdem ist einer Mutter jedesMittel recht, wenn sie ihren Sohn retten will», entgegnete er.
    «Es war keine Lüge, die du dir hast vergolden lassen. Er sieht aus wie du und verhält sich auch so.»
    Er zuckte mit den Achseln und ging an mir vorbei, blieb aber wieder stehen. «Komm ins Haus, deine Mutter hat bestimmt schon aufgetischt.»
    Ich war verwirrt, meine Gefühle waren undeutlich. In der kurzen Zeit seit meiner Rückkehr hatte ich eine neue Lüge in die Welt gesetzt und einen so veränderten Vater vorgefunden, dass man ihn kaum noch hassen oder verfluchen konnte. Hatte ich mir früher manchmal so etwas vorgenommen, so war es jetzt hinfällig. Hatte ich mir vorgenommen, ihm ins Gesicht zu sagen: «
Ich
bin dein Sohn, nicht er, du Schweinehund!», so fiel mir das jetzt nicht einmal mehr ein.
    Ich wurde nicht davongejagt, nicht bedroht, sondern zum Abendessen eingeladen. Von einem Mann, dem nun selbst die Vertreibung widerfuhr, die ich schon so lange kannte. «Ist es wahr, dass Großvater tot ist?», fragte ich ihn, als er an mir vorbeiging, aber er antwortete nicht.
    Das Gesindehaus war ein niedriger, quadratischer Bau, in dem die ungarischen und rumänischen Wanderarbeiter gelebt hatten, die wir für das Einfahren der Ernte angeheuert hatten. Später hatte Großvater ihren Platz eingenommen. Durchs Fenster sah ich Mutter, die sich über einen Topf beugte, in dem eine Suppe schwach köchelte. Während Vater auf der Türschwelle seine Stiefel auszog, schnitt sie Brot und Speck und deckte den Stubentisch, einen runden schweren Tisch aus Eichenholz, der einmal in unserer Stube gestanden hatte.
    Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht undtrocknete sich die Hände an der Küchenschürze ab, bevor sie den Topf vom Feuer nahm. Die Fensterscheiben waren vom Dampf beschlagen, und ich konnte nur mit Mühe Vater, der inzwischen eingetreten war, und Mutter erkennen, die offenbar miteinander sprachen. Ihre Münder öffneten sich lautlos, als wären sie in einem Aquarium, in dem sie ohne Kiemen atmen konnten.
    Vater streckte den Kopf durch die offene Tür. «Vielleicht kannst du etwas Holz holen. Es ist in Ordnung, Sarelo hat heute Morgen eingewilligt.» In der Scheune war es finster, doch die Hände fanden blind, was sie suchten, sie brauchten keine Anlaufzeit, keine Gewöhnung. Im Stall fehlte der Pferdegeruch, die Präsenz der Tiere, die man auch dann dort wusste, wenn man in der

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