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Jacob beschließt zu lieben - Roman

Jacob beschließt zu lieben - Roman

Titel: Jacob beschließt zu lieben - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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strich mit der Hand über meine Schulter, als ob sie einen Fussel entfernen wollte. Als ich zum Karren zurückging, rief sie mich noch einmal zu sich. Sie machte einige Schritte auf mich zu, dann fuhr sie mir mit den Fingern durch das Haar. «Deine Haare sind gewachsen. Ich habe Großvater gesagt, er soll sie dir kürzer schneiden. Ich habe vor einigen Wochen bei der serbischen Schneiderin etwas für dich in Auftrag gegeben. Ich habe gestern Katica getroffen, und sie hat mir versprochen, dass sie heute Morgen am Dorfausgang auf euch wartet, um es dir zu geben. Ich hoffe nur, es passt.» Ihr Kinn zitterte unmerklich.«Sagst du nicht Auf Wiedersehen zu deiner Mutter?»
    «Auf Wiedersehen, Mutter!»
    An der Dorfgrenze kam uns Katica entgegen. «Länger hätte ich nicht warten können», sagte sie. «Ich weiß nicht, ob sie passen, aber du kannst sie in der Schule tragen.» Ich sprang vom Karren hinunter und nahm das in Zeitungspapier gewickelte Geschenk, das sie mir hinhielt. So, wie ich größer geworden war, wenn auch hager und krumm, so war sie weiblicher geworden, aber dafür hatte ich noch keinen Blick.
    «Deine Mutter hat uns eine Hose und ein Hemd für dich in Auftrag gegeben, die du in der Stadt tragen kannst. Es sollte eine Überraschung sein.» Ich bedankte mich und schaute verlegen zu Boden.
    «Na dann», sagte ich.
    «Na dann», sagte sie. Ich stieg wieder auf.
    Der Karren setzte sich in Bewegung, während mir Großvater zuflüsterte: «Jacob, du bist Schwabe. Ich habe nichts gegen das Serbenmädchen, aber vergiss das nicht.»
    Ich blickte zurück und merkte, dass Katica uns hinterherlief. Sarelo brachte die Pferde wieder zum Halten. «Im Frühling fange ich in Madame Liebmanns Schneiderei an. Am Anfang ohne Lohn, aber nur so wollte sie mich nehmen. Vielleicht sehen wir uns dann wieder.» Unsere Blicke begegneten sich, und Großvater fuchtelte ungeduldig mit den Armen.
    Ein drittes Mal musste Sarelo anhalten, als wir am verlassenen Hügel vorbeizogen, auf dem Ramina gewohnt hatte. Sarelo hätte die Pferde am liebsten zum Galoppieren gebracht, aber ich riss ihm die Zügel aus der Handund brachte den Karren zum Stehen. Sarelo wollte sich nicht geschlagen geben, aber Großvater legte ihm sanft die Hand auf die Schulter und gab mir ein Zeichen. «Geh», flüsterte er.
    In Raminas Haus hatte es durch das Loch geschneit, das die Armee in die Wand geschlagen hatte. Außer dem Sofa und den Seifen war alles noch an seinem Platz, die Truhe mit den Heilpflanzen, die Töpfe und die Kleider. Ich wusste nicht, was ich fühlen sollte, denn sie hatte mich verraten. Ich ging ziellos umher und blieb vor dem Fenster stehen, aus dem sie und ich jahrelang einmal die Woche auf den Himmel geschaut hatten.
    «Auf Wiedersehen, Ramina!», rief ich in den kühlen Raum hinein, schloss die Tür und kehrte zur Straße zurück.
    * * *
    Fern von Vater blühte ich auf, doch Großvater alterte vor meinen Augen. Ohne seine geliebte Erde und seine Pferde, ohne seine Hunderte von Verrichtungen, die sein Leben im Dorf bestimmt hatten, schrumpfte er, saß schweigsam am Tisch und ging ebenso schweigsam zu Bett. In den Winter- und Frühlingsmonaten verstrich die Zeit nur langsam, als wäre sie eine alte, gebrechliche Frau, die mit letzter Kraft die Straße überquerte. Manchmal fiel für Stunden der Strom aus, und weil wir auch nur wenig Holz hatten, herrschte im Haus eine kalte, unangenehme Dunkelheit.
    An gewöhnlichen Abenden aber saßen wir in der Stube, und der Soldatensender gab Auskunft über den Krieg. Das Kriegsglück schien sich gewendet zu haben, denn nun waren die Russen auf dem Vormarsch. JedesMal, wenn sich die Deutschen zurückzogen, nannte man das
Frontbegradigung
. Als ob der Krieg ein Brotlaib wäre, aus dem man bei jeder Niederlage größere Stücke herausriss. Um das zu verbergen, schnitt man anschließend die Ränder wieder gerade. Wenn das Brot aufgebraucht sein würde, wäre der Krieg verloren, aber niemand hätte etwas gemerkt.
    Wir hörten auch noch Radio, wenn wir längst im Bett lagen. «Der Krieg ist verloren, das sage ich dir, Jacob. Da bin ich mit deinem Vater einig. Wir werden teuer büßen müssen, auch wenn wir nichts dafür können!», rief mir Großvater aus seinem Zimmer zu. Wir lagen im Dunkeln, jeder auf seiner Seite der Wand, und die Radiomusik erklang durch die stillen Räume. Wir kannten alle Lieder, aber die Zeit, als wir vergnügt mitgesungen hatten, war vorbei.
    Einmal fragte ich ihn, was denn das

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