Jacob beschließt zu lieben - Roman
begradigen. Den Russen würde bald die Puste ausgehen, da war er sich sicher.
Er empfahl einigen Kindern, ihre Eltern daran zu erinnern, dass sie für die deutsche Winterhilfe spenden mussten. Der Vater eines Jungen war soeben gefallen, das teilte er mit bebender Stimme mit. Der Junge saß da mit geröteten Augen und kämpfte mit den Tränen. Der Mann habe leider für die falsche Seite gekämpft. Die rumänische Armee sei schlecht ausgerüstet und feige, auch wenn sie Seite an Seite mit der Wehrmacht kämpfe. Wenn aber die Deutschen in Rumänien endlich die richtige Uniform anziehen und für ihre Sache kämpfen würden, dann werde alles ganz anders aussehen. Dann würden deutsche Tränen selten vergossen.
Er erinnerte sich an den wahren Zweck dieses Besuchs, rief mich zu sich und legte mir die Hand auf die Schulter. «Das ist Jacob Obertin. Er ist ein kränklicher Junge und kommt vom Lande. Wer ihn aber hänselt oder auslacht, bekommt es mit mir zu tun. Heil Hitler!»
Es wurde viel Sport getrieben, von dem ich aber dispensiert war, sodass ich meiner liebsten Beschäftigung nachhing: in irgendeiner einsamen, vernachlässigten Ecke des weitläufigen Schulhauses zu lesen. Ich hatte die Bücherei bei einem meiner Streifzüge durch die langen Flure eher zufällig entdeckt, und obwohl viele Bücher als undeutsch entfernt worden waren, waren noch genug da, um meine Neugier zu stillen.
Um mich nicht zu bevorzugen, schrieb mir der Klassenlehrer eine ganze Liste von Büchern auf, die ich während der Sportstunden zu lesen hatte. Hatte ich ein Buch gelesen, fragte er mich aus. Er war ein klein gewachsener Mann, dessen Haut gelblich schimmerte. Er war nicht halb so eifrig wie der Direktor, er wusste um seine Krankheit und ahnte seinen baldigen Tod. «Die Leber, mein Junge», sagte Großvater, als ich ihm davon erzählte. «Der Mann lebt nicht mehr lange.» Tatsächlich starb er noch vor Kriegsende.
Wenn wir zusammensaßen und ich ihm irgendein Buch, das ich kaum verstanden hatte, zusammenfasste, war ich mir fast sicher, dass er gar nicht zuhörte. Er sah durch mich hindurch, als ob ich in einer Welt lebte, zu der er schon nicht mehr gehörte. Doch dieser pflichtbewusste, strenge Mann sorgte dafür, dass ich las.
Nach Schulschluss streiften Großvater und ich ziellos durch die Stadt, als ob wir den Augenblick aufschieben wollten, an dem wir wieder in unser leeres Zuhause zurückkehren würden. Er trug meine Schultasche und ließ mich immer vorangehen, um sich in die Auslagen irgendeines Geschäfts zu vertiefen. Er ging langsam, als ob er keinen Anlass mehr für Eile hätte, da die Erde nicht mehr auf ihn wartete. Ebenso wenig warteten die Tiere oder einer seiner Kunden. Seine Stadtschritte hatten sich im Takt seiner Sehnsucht nach seinem Dorf verlangsamt.
Nachmittags stand er vor der Schule und wartete, wie einer der Bäume, die die Allee säumten. Wie eines seiner Pferde, das jahrelang am Rand des Feldes auf ihn gewartet hatte. Fast immer hatte er eine Packung
Bosambos
bei sich, jene muschelförmigen Oblaten, die mit Schokolade überzogen und mit Kakao gefüllt waren und die man nurin der Bäckerei
Österreicher
kaufen konnte. Wenn ich nach dem Unterricht aus dem Schulhof kam, bot er mir eine Bosambo an. Die anderen folgten auf den vielen Stationen unserer labyrinthischen Gänge, bei der letzten Station standen wir oft schon vor unserem Haus.
Wir zogen eine süße Spur durch die Stadt, die nie gleich war, sondern sich immer wieder veränderte, je nachdem, ob irgendwo Markt gehalten, ein Laden eröffnet wurde oder ein neues Buch zu kaufen war. Darin sah er seine wahre Aufgabe, darauf hatten ihn nicht erst Vater und Mutter bringen müssen. «Du musst viel lesen, Jacob, denn du bist schutzlos. Jeder kann mit dir machen, was er will, aber wenn du genug weißt, bist du gewappnet.» Er hob seinen Finger. «Wer genug weiß, kann seine Erde hinter sich lassen. Wer nicht, der braucht ein Stück Erde, das ihn ernährt.» Zufrieden über seine kurze Rede, steckte er sich eine Bosambo in den Mund. Im Gegensatz zum Klassenlehrer interessierten ihn nicht die Titel meiner Bücher. Zwei Buchdeckel genügten, damit er Vertrauen in meine Zukunft schöpfte.
Immer öfter aber verspätete er sich oder kam gar nicht mehr zur Schule. Als ich einmal lange genug gewartet hatte, machte ich mich allein auf den Weg nach Hause. Vor der Bosambo-Bäckerei blieb ich stehen, um die Torten und Kuchen zu betrachten, die sich hinter dem Schaufenster
Weitere Kostenlose Bücher