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Jacob beschließt zu lieben - Roman

Jacob beschließt zu lieben - Roman

Titel: Jacob beschließt zu lieben - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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eigentlich sei,
unsere Sache
. Nebenan raschelte die Bettwäsche, die Dielen quietschten, dann stand er im Nachthemd vor meinem Bett. «Wir haben Lothringen verlassen, weil es dort Krieg und Hunger und die Pest gegeben hat. Wir haben nicht einen neuen Krieg gesucht, sondern Frieden und ein Stück Erde. Mir scheint, dass uns der Hunger und der Krieg nun wieder eingeholt haben. Aber im Gegensatz zu früher haben wir keinen Ort mehr, wo wir hingehen können.»
    Großvater sollte recht behalten, denn erst nach dem Krieg sollte unser eigentlicher Krieg beginnen. Zwei Jahre noch, dann sollte die Welt, so wie wir sie kannten, zu Ende sein. Solche Abende endeten immer damit, dass er mir Geschichten aus dem Dorfleben oder die große Geschichte der allerersten Siedler, mit denen alles angefangenhatte, erzählte. Irgendwann schaltete Großvater das Radio aus oder unterbrach seine Erzählung. An seinem Atmen merkte ich, dass er eingeschlafen war.
    Ob er dabei improvisierte, wie Ramina es getan hatte, weiß ich bis heute nicht, aber es war mir auch nicht wichtig. Ganze Generationen von Obertins, die einen reich, die anderen arm, hatten sich in diese uralte, mächtige Erzählung verwoben und sie jedes Mal von Neuem erfunden. Nacht für Nacht rutschten Großvater und ich aus Lothringen direkt in den Schlaf.
    Großvater bestand darauf, mich täglich in die Schule zu bringen und auch wieder abzuholen, weniger aus Sorge um mich als vielmehr, um seinem Tag einen Inhalt zu geben. In seiner bäuerlich anmutenden Kleidung wirkte er unter all der feinen Herrschaft in der Elektrischen, den Beamten, Offizieren und Handelsreisenden, wie ein Eindringling. Manchmal standen da auch ärmlich gekleidete junge Frauen, die um nichts in der Welt auf einem der freien Sitze Platz genommen hätten. Egal, wie beladen sie mit Einkäufen waren, ihre Stellung schien ihnen so natürlich und widerspruchslos zu sein, dass sie es vorzogen zu stehen, als etwas zu tun, was sich in ihren Augen nicht schickte. Die Ehre ihres Standes, so niedrig er auch war, war ihnen teuer.
    Es waren Mädchen vom Lande, die irgendeine bemittelte Familie angestellt hatte und die gewohnt gewesen waren, kilometerweit zu Fuß zu gehen, um dem Acker den allerletzten Rest Nahrung zu entreißen. Als der allerletzte Rest nicht mehr genügt hatte, beschlossen sie, sich ihren Lebensunterhalt in der Stadt zu verdienen. Sie sahen immer zu Boden, als ob die befristete Gleichheit, die zwischen ihnen und den anderen herrschte, von ihnenungewollt und unverdient war. Denn die Elektrische beförderte gleichgültig und unterschiedslos alle.
    So hatte womöglich auch Mutter in Amerika ausgesehen, am Anfang zumindest. Wenn Großvater bei dem Anblick der Landmädchen lächelte, wusste ich nicht, ob er sich dasselbe wie ich vorstellte. Vielleicht lächelte er, der jetzt so viel Geld besaß, bloß weil er in ihnen seine eigene Herkunft erkannte.
    Schuldirektor Sturz hatte mich mit einem bestimmten «Heil Hitler!» begrüßt, doch weil ich mit einem schwachen «Küss die Hand» geantwortet hatte, hatte sich sein Blick mitleidsvoll und streng auf mich gesenkt. Ein deutscher Junge küsse keine Hände, meinte er, er küsse höchstens Vater und Mutter, wenn er in den Zug zur Front einsteigen müsse. Höchstens die Hände schöner Frauen würde ein deutscher Mann küssen. Er sog an der Zigarre und schien ganz zufrieden mit dieser ersten pädagogischen Maßnahme. Mir blieb nicht anderes übrig, als das zu rufen, was er hören wollte. Das stimmte ihn milde, wie bestimmt auch das Schwein, das Vater ihm hatte zukommen lassen.
    In dieser Zeit, als der Krieg uns erreichte und die Züge nur noch voller Soldaten und Waffen waren, während sich die Geschäfte und die Märkte leerten, war ein Schwein eine halbe Lebensversicherung. Einer von Vaters Knechten hatte es ihm gebracht, und weil sich hinter ihm vom Pferdekarren bis zur Direktorswohnung in der Temeschwarer Altstadt eine Blutspur gebildet hatte, wurde die Frau Direktor hysterisch. Sie fürchtete Einbrecher, Fleischdiebe, und die Missgunst der Nachbarn. Sie hatte sich hingekniet und Treppenstufe für Treppenstufe geputzt.
    Dann hatte Schuldirektor Sturz die Hand auf meinenHinterkopf gelegt und mich ins Schulzimmer geführt, wo es weitere «Heil Hitler!» zu hören gab, vom Lehrer und von den Schülern, alle im Chor. Der Direktor erklärte in einer kurzen Rede Hitler zum Gröfaz und den Krieg für gewonnen, auch wenn man momentan gezwungen war, die Front zu

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