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Jacob beschließt zu lieben - Roman

Jacob beschließt zu lieben - Roman

Titel: Jacob beschließt zu lieben - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Münzen an sich genommen hatte, schien er uns auf einen Schlag vergessen zu haben und wandte sich einem anderen Paar zu, während sein Begleiter in der Nähe blieb.
    «Was ist los?», fragte ich Katica.
    «Die Madame schickt mich ins Dorf zurück. Sie muss dichtmachen, aber nicht, weil sie jüdisch ist, sondern weil die Kunden ausbleiben. Die Leute kaufen lieber etwas zu essen als neue Kleider.»
    Auf dem Weg zu ihrem Zimmer küsste ich sie im Hauseingang neben der Bosambo-Bäckerei. Auf den Brettern, mit denen man die Schaufenster zugenagelt hatte, stand mit weißer Farbe
C.N.R
, und die auf dem Regal zurückgelassene Torte war längst zu einem kleinen, grauen Haufen zusammengeschrumpft. Mit einem völlig neuen Gefühl im Bauch kehrte ich nach Hause zurück.
    In dieser Nacht wurden Großvater und ich von Bombeneinschlägen rund um den Nordbahnhof geweckt. Wie alle anderen gingen auch wir auf die Straße und erblickten den lodernden Himmel über den Hausdächern. Er kündigte die Ankunft des Krieges an. Die Sirenen heulten viel zu spät los, als ob unser besoffener Strubert sie bedient hätte. Ich lief ins Haus zurück, zog mich an, und als ich mich draußen an Großvater vorbeischleichen wollte, fragte er: «Wo willst du hin? Es ist zu gefährlich.» Meine Antwort ging in einer Serie von Explosionen unter. Nachdem die Flugzeuge abgedreht hatten, flogen Munitions-, Erdöldepots und Fabriken in die Luft.
    Ich brachte Katica, die ich zusammengerollt in einer Ecke ihres Zimmers gefunden hatte, zu uns. Das erste Tageslicht kündigte einen so blauen Himmel an, als wollte er uns verhöhnen. In Decken gehüllt, saßen Katica und ich auf der Veranda und hielten uns an der Hand, überzeugt davon, dass wir bald sterben würden. Dann hörten wir die ersten Nachrichten über verkohlte, erstickte, verschüttete Menschen. So ging das einige Wochen lang, wir verbrachten viel mehr Zeit im Schutzraum als im Haus. Am Tag spürte ich auf der Hand den nächtlichen Druck von Katicas Fingern.
    Das letzte Mal, als ich Katica sah, saß sie auf unserem Pferdewagen, und Sarelo peitschte auf die Pferde ein, um vor der Dunkelheit wieder im Dorf zu sein. «Ohne Peitsche, nur mit dem Zaumzeug!», rief ihm Großvater hinterher, doch Sarelo kümmerte sich nicht darum. Katica hob die Hand zum Gruß, und diesmal lief ich hinter dem Pferdewagen her.
    * * *
    Wenn die Russen nicht bald abziehen würden, würde ich erfrieren und sterben müssen. Das Eis hatte nicht nachgegeben, weil es mich länger am Leben halten wollte, für einen anderen Tod, den irgendwer, Gott vielleicht, sich für mich ausgedacht hatte. Schade, dass Ramina ständig über meine zwei Geburten erzählt hatte, aber nie über meinen Tod. Dass ich jetzt nicht eine größere Auswahl zur Verfügung hatte, um mir einen mir angemessenen aussuchen zu können. Denn ob es in Sibirien geschehen würde oder gleich an Ort und Stelle, auf unserem Friedhof, konnte ich ohne Raminas Hilfe nicht sagen.
    Ich nahm all meinen Mut zusammen, schob die Grabplatte beiseite und hob meinen Kopf. Es schneite nicht, und auch der Wind hatte sich gelegt. Die Gruften und die Grabsteine waren mit einer dicken, weißen Schicht überzogen. Sogar der Zaun, der den Friedhof vom Feld abgrenzte, war kaum noch auszumachen. Ich streckte mich und klopfte mich ab, dann spürte ich, wie meine steifen Glieder wieder zum Leben erwachten. Ich schlich mich über die kaum sichtbaren Wege zum Friedhofstor.
    Im Dorf, vielleicht sogar vor unserem Hof, bewegten sich Lichter, und erneut drangen die Rufe der Russen an mein Ohr, die wohl zur Eile ermahnten, dann wurde geschossen, und eine Frau schrie auf. Die Nacht war nicht dunkel, denn der Schnee erhellte sie. Sie war nicht dunkel genug, um mich zu verbergen.
    Seit einigen Augenblicken war es still geworden, als ob das ganze Dorf schliefe und alles nur ein böser Traum gewesen wäre. Nur dort, wo der Dorfplatz sein musste, leuchteten einige Scheinwerfer. Dann wurden Motoren angelassen, und es dauerte nicht lange, bis sich einige der Lastwagen auf den Weg aus dem Dorf machten.
    In diesem Augenblick riss die Wolkendecke auf, und der Mond tauchte alles in sein mattes Licht. Ich kehrte in mein Versteck zurück und war überzeugt, dass bald auch die letzten Russen abziehen und man mich zurück ins Haus holen würde. Ich nickte ein, als ich plötzlich Stimmen hörte, die sich dem Friedhof näherten, doch ich verstand nicht, in welcher Sprache sie redeten. Durch einen Spalt sah ich das Licht

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