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Jacob beschließt zu lieben - Roman

Jacob beschließt zu lieben - Roman

Titel: Jacob beschließt zu lieben - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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daran gehalten.»
    In den nächsten Monaten wurden Katica und ich unzertrennlich. Wenn sie nicht im Nähatelier oder ich nicht in der Schule war, wenn Großvater uns nicht in seiner Nähe haben wollte, streiften wir umher, wie ich es früher mit ihm getan hatte. Es konnten viele Stunden verstreichen, in denen wir fast nichts sprachen. Ich hatte ihr alleGeschichten von Ramina und Großvater erzählt. Aber das war es nicht, was sie wirklich interessierte. Sie meinte, solche Menschen wie Caspar und Frederick verdienten es gar nicht, dass man von ihnen erzählte. Sie seien schließlich nur Mörder gewesen. Und sie begriff, da war ich mir sicher, dass ich sie damit nur aufhalten und weglocken wollte von etwas, was nur mit uns beiden zu tun hatte.
    In irgendeiner Gegend, wo uns niemand kannte, auf einer unbelebten Straße, hinter einer Mauer, griff ich manchmal nach ihrer Hand. Nur das. Und fast am Schluss, kurz bevor sie Temeschwar verlassen musste, als ich sie zum letzten Mal sah, habe ich sie auch geküsst. Aber viel lieber erinnere ich mich an unsere Hände.
    Katica erwähnte Vater so gut wie nie und auch nicht, was sie bei uns gesehen und gehört hatte. Nicht aus Rücksicht, sondern weil es in ihrer Welt ohne Bedeutung war. Ihre Eltern waren so arm, dass sie nichts außer der Schneiderbüste und den alten Modezeitschriften ihrer Mutter erben würde. Einen Hof und eine große Vergangenheit hatten sie nie gehabt, nur ein armseliges, kleines Haus. Was zählte, war der Augenblick, noch nie habe ich jemanden gekannt, dem die Vergangenheit oder die Zukunft so wenig bedeuteten. Wichtig war, was greifbar war, so wie ich.
    Es gab in der Stadt inzwischen nur noch einen einzigen, allgegenwärtigen Gedanken: Nahrung zu finden, und das, bevor ein anderer sie fand. Rastlos streiften die Menschen für altes Fleisch oder verwelktes Gemüse umher. Sie standen widerwillig Schlange, denn das Einzige, was aus ihrem früheren Leben überdauert hatte, war die Überzeugung, dass ihnen mehr zustand als anderen.Wenn die Ware knapp wurde oder ganz ausging, brach Streit aus. Nicht selten hatte ich gesehen, wie sich feine Herrschaften um ein paar Knochen prügelten. Der Krieg mied uns immer noch, aber sein Atem wurde von Tag zu Tag hörbarer.
    Großvater und mir ging es besser, denn nie blieb Sarelos Besuch aus. Es reichte sogar für Katica, der ich regelmäßig ein Paket mit Würsten und Käse brachte. Doch die Stadt quoll über vor Dieben und Bettlern. Sie standen vor den Kirchen, vor allem dort, und vor den Wirtshäusern und Geschäften, in denen die verkehrten, die es sich noch leisten konnten. Sie standen vor dem Theater und an jeder großen Straßenkreuzung, in den Parks und am Kanal. Ihre jammervollen Stimmen, ihre zerknitterten Gesichter verfolgten einen bis in die Träume. Sie waren die Besatzer, die wahren Herren der Stadt. Sich ihnen zu entziehen hieß, nicht mehr aus dem Haus zu gehen.
    Einem der Bettler fehlten die Beine, er tauchte immer auf dem Rücken eines drahtigen, schweigsamen Mannes auf, der ihn überall hintrug. Im Gegensatz zu allen anderen, die auf der Straße und von der Straße lebten, war der Beinlose immer frisch rasiert und sauber angezogen. Als ob das saubere Betteln ehrenhafter gewesen wäre als eines in Lumpen.
    Katica und ich hatten die beiden oft beobachtet, die nie planlos vorgingen. Sie spähten zuerst die Orte aus, berieten kurz, aber das letzte Wort hatte immer der Krüppel. Wenn sie einen Ort für vielversprechend hielten, setzte der Träger den Beinlosen ab, der sich auf dem letzten Stück zu seinen Opfern allein über den Boden schleifte. Vielleicht durch seine Erscheinung, vielleicht durch sein Geschick nahm er am meisten von allen ein. Einmal hattenwir die beiden sogar in einem ziemlich teuren Lokal sitzen sehen, vor sich Teller voller köstlicher Speisen.
    Mitte Juni – ein goldener, überhitzter Monat – saßen Katica und ich am Kanal, wie viele andere auch. Etwas schien sie zu beschäftigen, doch sie fand keine Worte dafür. In dem Augenblick hörten wir eine Stimme neben uns: «Wenn du sie nicht bald küsst, läuft sie dir davon, bei dem Gesicht, das sie macht.» Der Krüppel schleppte sich näher, bis er direkt vor uns stand, dann sagte er: «Oder du gibst mir ein paar Münzen. Das wirkt genauso wie das Küssen.»
    «Wieso denn das?», fragte ich ihn, während ich etwas Geld aus der Tasche kramte.
    «Ganz einfach, weil ich dann etwas nicht tue.»
    «Was?»
    «Euch verfluchen.»
    Als er die

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