Jaeger
auf zu nicken. Dass sie weinte, bemerkte sie erst, als Anni den Arm um sie legte.
»Bitte nicht …« Das Blei in ihren Adern wurde immer schwerer. Ihr Herz, ihr ganzer Körper war vor Furcht wie gelähmt. »Bitte nicht …«
So saßen sie da, boten einen traurigen Anblick, während die Zeit um sie herum zu einem Vakuum wurde.
Die Stille wurde jäh unterbrochen, als jemand den Vorhang der Kabine beiseitezog. Marina hob den Kopf. Eine müde aussehende Krankenschwester kam herein.
»Wie fühlen Sie sich?«, fragte sie. Ihr Tonfall war sachlich, ihr Interesse rein beruflicher Natur, und doch lag Mitgefühl in ihren Augen, selbst wenn diese dunkle Ringe hatten.
Marina starrte sie an. Sie hatte keine Ahnung, was sie auf die Frage antworten sollte.
»Mein Mann … wie geht es ihm? Wo ist er? Kann ich ihn sehen?«
»Er wird noch operiert«, teilte die Schwester ihr mit. »Die Ärzte tun alles Menschenmögliche.«
»Oh nein …« Erneut diese bleierne Schwere, das Gewicht im Innern, das sie niederdrückte.
»Gibt es denn schon Neuigkeiten? Können Sie uns irgendwas sagen?« Annis Ton war nüchtern und professionell.
Die Schwester maß sie mit einem bewusst neutralen Blick. »Sie sind zuversichtlich.«
»Was fehlt ihm denn?«
»Es gab eine Explosion«, erklärte die Krankenschwester, während sie Marina untersuchte. »Zum Glück befand er sich nicht in unmittelbarer Nähe des Explosionsherdes, sonst hätte er nicht überlebt. Er wurde von umherfliegenden Trümmern getroffen. Kopfverletzung. Er ist gerade im OP .«
Nach den Worten der Krankenschwester fühlte sich Marina kalt und taub.
»Seiner Mutter geht es gut. Sie ist weniger schwer verletzt als anfänglich gedacht.« Die Schwester zögerte kurz. »Aber das mit seinem Vater tut mir sehr leid. Offenbar konnten die Notärzte nichts mehr für ihn tun.«
Marina sagte nichts. Sie brachte keinen Ton heraus.
»Sie stehen unter Schock«, teilte die Krankenschwester ihr mit. »Wir warten nur, bis ein Bett frei wird, dann verlegen wir Sie auf die Station. Wir würden Sie gerne über Nacht hierbehalten. Außerdem wollen Sie ja bestimmt in der Nähe Ihres Mannes sein.«
Ihr Blick wanderte zwischen Marina und Anni hin und her. »Ich komme wieder, sobald ich kann.«
Sie ging und zog den Vorhang wieder hinter sich zu.
Anni schwieg. Marina starrte geradeaus. Das Muster des Vorhangstoffs tanzte und flimmerte vor ihren Augen.
Annis Handy klingelte. Sie fuhr von ihrem Stuhl hoch. »Das ist vielleicht Mickey«, sagte sie. »Gib mir eine Minute.« Sichtlich erleichtert über die Unterbrechung verließ sie die Kabine.
Marina rührte sich nicht, sondern blickte unbewegt ins Leere. Im Geiste sah sie die Augen ihrer Tochter vor sich. Ihre Augen. Ihr Lächeln. Ihr Haar.
Plötzlich verspürte sie den überwältigenden Drang zu schreien, auf etwas einzuschlagen, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen. Damit all die unaussprechlichen Gefühle, die in ihr wüteten, irgendwie herauskamen. Doch sie kämpfte den Drang nieder. Für den Moment.
Anni kam zurück und setzte sich wieder.
»Gibt es Neuigkeiten? Über Josephina? Was ist los? Was …«
Anni schüttelte den Kopf. »Noch nichts, tut mir leid …«
Marina krümmte sich zusammen. »Nein. Nein. Sie muss da sein. Nein. Sie muss einfach.«
»Sie suchen immer noch.« Anni stieß einen Seufzer aus.
»Ich weiß. Aber …«
Marina schwieg.
»Hör mal, ich fürchte, ich muss dir ein paar Fragen stellen.«
»Nein.« Marina wandte sich ab und schloss die Augen.
»Marina, bitte. Ich weiß, dass es schwer ist. Aber wir sind aus reiner Gefälligkeit hier. Weil du und Phil bei der Polizei seid, drücken die zuständigen Ermittler vor Ort ein Auge zu. Pass auf, du musst uns helfen. Wenn es irgendetwas gibt …«
»Nein. Nein.« Marina drehte sich wieder zu Anni um. Las in ihrem Gesicht, dass diese nicht nur ihre Arbeit tat, sondern aufrichtig um sie bemüht war. »Lass …« Sie holte zitternd Luft. »Lass mich nur eine Minute allein. Fünf Minuten.«
»Okay.« Anni nickte und stand auf. »Möchtest du irgendwas? Ich hole mir was zu trinken und eine Tafel Schokolade. Bin total ausgehungert.«
Marina hörte sie kaum.
»Also gut.« Anni verschwand.
Marina lag da und starrte erneut auf den Vorhang. Plötzlich erklang eine ihr bekannte Melodie. Der alte Joy-Division-Song »Love Will Tear Us Apart«. Geistesabwesend fragte sie sich, woher die Musik wohl kam.
Bis ihr klarwurde, dass es der Klingelton eines Handys sein
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