Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jaeger

Jaeger

Titel: Jaeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tania Carver
Vom Netzwerk:
kaum so langweilig sein wie den Männern im Gefängnis. Sie waren doch frei, durften das Leben in vollen Zügen genießen.
    Die Frauen waren bald verschwunden. Er jedoch blieb stehen, wo er war. Er traute sich nicht recht, dem Gefängnis endgültig den Rücken zu kehren. Wusste nicht, wohin.
    Vor seiner Entlassung hatte man ihm eine Adresse gegeben. Ein Resozialisierungszentrum, eine Unterkunft. Dort könne er bleiben, bis er wieder Fuß gefasst habe, war ihm erklärt worden. Der Zettel mit der Adresse steckte in seiner Tasche, zusammen mit den Entlassungspapieren und einem Reisegutschein. Er hatte den Leuten im Gefängnis zugesichert, dass er in dieses Zentrum gehen werde. Das erwarteten sie von ihm.
    Doch als er nun so dastand, wusste er auf einmal nicht mehr, was er tun oder wohin er sich wenden sollte.
    Die Welt draußen war voll und laut, aber in seinem Kopf und seinem Herzen herrschten Stille und Leere. Die Zeit entglitt ihm. Dehnte sich. Vielleicht stand er nur ein paar Sekunden vor dem Tor, vielleicht aber auch mehrere Jahre. Er hätte es nicht sagen können.
    Erneut warf er einen Blick hinter sich. Sechzehn Jahre seines Lebens hatte ihn dieser Ort gekostet. Dieser und andere, ihm ähnliche Orte. Das Fabriktor saß längst wieder in seinem Rahmen, als hätte es sich nie geöffnet. Jemand anders würde seine Zelle bekommen, seine Bücher, seine Kleider und Hygieneartikel. Er aber wäre bald vergessen, so wie die Wellen auf der Wasseroberfläche eines Teiches, kurz nachdem ein Stein hineingefallen war, schon wieder zu nichts zerflossen waren.
    Er zitterte trotz der milden Morgenluft. Der Gedanke machte ihn beklommen.
    Zu nichts zerflossen.
    Während er noch dastand und zu entscheiden versuchte, wo er hingehen sollte, hielt vor ihm ein Wagen am Straßenrand und hupte. Das laute Geräusch ließ ihn zusammenfahren, doch er verließ seinen Platz nicht. Abermals ertönte die Hupe, dann streckte sich eine winkende Hand aus dem Fenster des Autos.
    Verwirrt sah er sich um und fragte sich, wen der Fahrer wohl gemeint hatte.
    Die Hand winkte noch immer. Eine Aufforderung, herzukommen. Schließlich begriff er, dass sie ihm galt.
    Er machte einen Schritt, woraufhin der Fahrer ermutigend nickte und erneut winkte. Während er unschlüssig dastand und überlegte, was er tun sollte, hupte plötzlich ein anderes Auto. Galt das etwa auch ihm? Er warf einen Blick auf dessen Fahrer. Nein. Der Mann war bloß wütend, weil der erste Wagen die Fahrspur blockierte und der Gegenverkehr das Überholen unmöglich machte. Es hatte sich bereits eine kleine Autoschlange hinter dem ersten Wagen gebildet. Dessen Fahrer winkte ihm immer noch, inzwischen deutlich energischer.
    Da er nicht wollte, dass es seinetwegen einen Stau gab oder andere sich ärgerten, ging er auf den Wagen zu.
    Der Fahrer lehnte sich zur Beifahrertür und öffnete sie von innen.
    Er stieg ein.
    »Jetzt mach sie schon zu.«
    Er gehorchte. Sah den Fahrer an. Der Fahrer lachte.
    »Na, kennst du mich noch?«
    Er schwieg.
    »Alte Freunde wiederzuerkennen fällt nicht immer leicht, Doktor …« Wieder ein Lachen. Warum hatte der Mann das in einem schauderhaften chinesischen Akzent gesagt?
    »Weißt du, woher das ist? Ja? Nein. Natürlich nicht. Macht nichts.« Der Fahrer musterte ihn von oben bis unten. »Mehr hast du nicht dabei? Das ist alles?«
    Er nickte. »Ja.«
    »Na, wenn du meinst.«
    Er legte den Gang ein, zeigte dem Fahrer hinter sich mit wutblitzenden Augen den erhobenen Mittelfinger und fuhr los.
    »Ich kenne Sie … Sie sind …« Er hatte Mühe, sich an den Namen zu erinnern. »Jiminy Grille.«
    Jiminy Grille grinste. »Schuldig im Sinne der Anklage.«
    »Wo fahren wir hin?«
    Jiminy lachte. »Wir haben jede Menge Arbeit vor uns. Aber erst mal sollst du dich einrichten. Keine Sorge. Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens.« Schon wieder lachte er. »Davon hab ich noch jede Menge mehr auf Lager.«
    9 Marinas Kopf pochte, und nicht nur vor Schmerzen. Sie war krampfhaft auf das konzentriert, was die Stimme ihr sagte, doch es dauerte, bis die Worte das weiße Rauschen ihres Verstandes durchdrangen.
    »Josephina …«, stieß sie hervor. »Wo ist sie? Geht es ihr gut? Wo –«
    »Seien Sie still und hören Sie zu.« Der Tonfall war scharf, gebieterisch.
    Marina schwieg. Sie lauschte, doch alles, was sie hören konnte, waren das Rauschen des Blutes in ihren Ohren und der Atem in ihrer Brust. Es war, als hätte sie die Niagarafälle im Kopf, da war nichts

Weitere Kostenlose Bücher