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Jaeger

Jaeger

Titel: Jaeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tania Carver
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musste.
    Sie sah sich um. Neben dem Stuhl auf dem Fußboden lag Annis Tasche. Marina schwindelte, und ihre Seite schmerzte wie rasend, als sie sich über die Seite der Liege beugte und aufmerksam lauschte. Nein, von dort kam das Klingeln nicht.
    Sie legte sich wieder hin. Das Lied hörte überhaupt nicht mehr auf. Erneut suchte sie die kleine Kabine mit Blicken ab. Auf der anderen Seite der Liege stand ihre eigene Handtasche. Von dort schien der Klingelton zu kommen.
    Mit gerunzelter Stirn streckte sie sich nach der Tasche und hob sie vom Boden auf. Sie wühlte darin herum und förderte schließlich ein Handy zutage. Es war ein billiges schwarzes Smartphone, das sie noch nie zuvor in ihrem Leben gesehen hatte. Verwirrt nahm sie das Gespräch an.
    »Hallo …?«, fragte sie unsicher.
    »Marina Esposito.« Eine unbekannte Stimme. Elektronisch verzerrt. Weder männlich noch weiblich. Aber trotzdem klar und deutlich zu verstehen.
    »Ja …« Sie sah sich rasch um, als stünde jemand in der Nähe, der sie hören könnte.
    Aus der Leitung drang ein Laut, der kein Wort war. Marina wusste, dass die Person am anderen Ende lächelte. »Ich glaube, ich hab etwas, das Ihnen gehört.«
    Ein Beben ging durch Marinas Körper. Sie war außerstande, etwas zu erwidern.
    »Etwas, das Ihnen abhandengekommen ist.«
    »W … was denn?«
    »Etwas mit Namen … Josephina.« Die Person am anderen Ende ließ sich den Namen förmlich auf der Zunge zergehen.
    Marina schnappte nach Luft. Dann begann sie zu zittern. »Wo ist sie? Ich muss … ich muss …«
    »Seien Sie still und hören Sie zu.« Auf einmal klang die Stimme härter, kälter. »Wenn Sie Ihre Tochter lebend wiedersehen wollen, sagen Sie jetzt kein Wort mehr und hören mir genau zu.«
    8 Das Tor schloss sich hinter ihm. Er hatte sich ein Reiben von Metall an Metall vorgestellt, wenn der Schlüssel herumgedreht und ein Riegel nach dem anderen zurückgeschoben wurde. Die alten Angeln würden vor Empörung kreischen: Wieder einer, der in die Freiheit entlassen wurde. Dann würde sich das Tor schließen, in seinen Rahmen zurückrollen, dort, wo es hingehörte, und hinterher wäre es, als hätte es sich nie bewegt. Das Geräusch des Einrastens wäre laut und endgültig und würde ganz langsam verhallen, bis eine ohrenbetäubende Stille zurückblieb.
    In Wirklichkeit jedoch war es ganz anders gewesen. Das Tor hatte sich einfach vor ihm aufgetan, wie das einer Garage oder einer Fabrik, und er war ins Freie getreten. Danach war es zurück an seinen Platz geglitten. Das Summen des Elektromotors war verstummt, kaum dass es vollständig geschlossen war.
    Und nun stand er da und starrte auf die vor ihm liegende Straße. Autos fuhren vorbei. Sie waren schneller, als er es von früher kannte. Die Silhouetten der Autos hatten sich auch geändert, ebenso die Farben. Metallic. Futuristisch, aber trotzdem wiedererkennbar. Auf den Gehwegen liefen Menschen. Männer, Frauen, alte, junge. Einige von ihnen trugen Anzüge, aber die meisten, vor allem die Frauen und die Jüngeren, hatten Kleider an, die ihm ganz fremd und anders vorkamen. Als kämen sie aus einer Parallelwelt.
    Er schaute zwei Frauen hinterher, die Kinderwagen schoben. Keine Jacken, nur dünne T-Shirts und Jeans. Sie waren jung und hübscher als die Frauen seiner Erinnerung. Sie redeten und lachten, als wäre alles auf der Welt ein einziger köstlicher Scherz.
    Er sah sie davongehen, beobachtete den Schwung ihrer Hüften in den engen Jeans und spürte, wie sich etwas in ihm regte. Etwas ganz tief unten, das lange unterdrückt gewesen war. Woran er all die Jahre nicht gedacht hatte. Noch etwas, von dem er sich eingeredet hatte, es existiere gar nicht. Doch beim Anblick dieser zwei Frauen, wie sie da vor ihm die Straße entlanggingen, erwachte es wieder zum Leben.
    Er konnte den Blick gar nicht von ihnen lassen. Bis ihm auffiel, dass sie etwas Seltsames auf der Haut trugen.
    Tätowierungen. Auf ihren nackten Schultern und Armen. Schlagartig erstarb das Gefühl in seinem Innern. Im Gefängnis waren viele Häftlinge tätowiert gewesen. Es war eine Art Zeitvertreib für sie. Die Motive waren oft unbeholfen gezeichnet, viele Wörter falsch geschrieben. Aber die Tattoos dieser Frauen sahen vollkommen anders aus. Es waren kunstvolle Bilder, Schnörkel und verschlungene Schriftzüge. Sie hatten sie sich absichtlich stechen lassen. Wie sehr hatte sich die Welt verändert, dass Frauen sich freiwillig so verunstalten ließen? Ihnen konnte doch

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