Jaeger
aufgeschlossen, und die Frau trat ein. Er hatte sie bislang nur das eine Mal durchs Küchenfenster gesehen, da war sie wütend gewesen und hatte ein rotes Gesicht gehabt. Jetzt, aus der Nähe, sah sie irgendwie anders aus. Ihr Gesicht war nicht mehr rot, sondern blass und fleckig. Sie hatte sich geschminkt, sich aber nicht sehr viel Mühe dabei gegeben. Tyrell hatte einmal gelesen, dass manche Gesichtszüge als »modelliert« bezeichnet wurden. Das Gesicht dieser Frau allerdings sah aus, als wäre es gemeißelt worden. Die Haare standen ihr wirr und ungekämmt in einem seltsamen Winkel vom Kopf ab. Ihre Kleider – Leggings, Turnschuhe, Fleecepullover – waren schäbig und verblichen, als wären sie unzählige Male gewaschen worden.
»Los, komm«, sagte sie. »Es wird langsam Zeit.«
Er stand auf, machte aber keinen Schritt. Starrte sie an. Sie schaute gar nicht in seine Richtung.
»Ich mag Sie nicht«, ließ er sie wissen.
Sie seufzte und sah auf ihre Armbanduhr. »Bricht mir echt das Herz.«
»Sie waren gemein zu dem kleinen Mädchen. Sehr, sehr gemein.«
Sie schwieg.
»Sie hätten nicht so mit ihr schimpfen dürfen.«
»Was geht dich das an?«
Er spürte, wie ein Gefühl in ihm hochstieg, wusste aber nicht genau, was es war. »Sie haben ihr Angst gemacht. Das hätten Sie nicht tun dürfen.« War es Wut? Traurigkeit? »Man darf Kindern keine Angst machen. Niemals …« Heiße Tränen brannten in seinen Augenwinkeln. Er starrte die Frau weiterhin an, doch sie hielt den Blick abgewandt. Schämte sie sich vielleicht irgendwie?
Tyrell machte einen Schritt auf sie zu. Sie zuckte kurz zusammen und wich dann zurück. »Sie haben ihr gedroht.« Er musterte sie anklagend. »Was für ein Mensch droht einem kleinen Mädchen?«
»Hör zu, mach … Sieh einfach zu, dass du fertig wirst, und dann komm.«
»Wohin? Wieso?«
Sie stöhnte. Dann sagte sie wie zu sich selbst: »Damit das alles endlich ein Ende hat.«
»Es hat ein Ende? Heute?«
»Ja, heute. Er hat’s dir doch schon erklärt.« Sie klang unwirsch, als müsse sie einem dummen Kind zum wiederholten Mal etwas erklären. »Jetzt stell dich nicht an wie ein Idiot. Komm einfach.«
»So was sagt man nicht. Das ist nicht nett. Das ist beleidigend. Sehr beleidigend.« Aufgewühlt von ihren Worten, setzte er sich wieder aufs Bett. Dort dachte er angestrengt nach. Kam dann zu einem Entschluss. »Ich mag Sie nicht. Ich mache nicht, was Sie sagen.« Er nickte. »Jawohl, ich mach’s nicht.«
Sie stützte sich mit der Hand am Waschbecken ab und schüttelte den Kopf. »Mein Gott …« Sie sah auf. »Jetzt … jetzt komm einfach. Wir müssen los.«
Tyrell rührte sich nicht vom Fleck. Auch sonst ließ er in keiner Weise erkennen, dass er die Aufforderung gehört hatte.
Sie seufzte erneut. »Du wirst gleich die Frau treffen, die dir helfen soll.«
»Wie helfen?« Er sprach zur Wand, ohne die Frau anzusehen.
»Damit es dir besser geht. Damit du gesund wirst.«
»Bin ich krank? Ich bin doch nicht krank?«
»Nein, nein, du bist nicht krank. Sie wird dir helfen, damit du … wieder glücklich bist. Und sie kann dich reich machen.«
»Reich?«
»Ja. Und … sie kann alles wiedergutmachen, was man dir angetan hat.«
»Wie denn?«
»Sie kann es eben. Aber dazu musst du mitkommen und dich mit ihr treffen. Wir müssen jetzt los.«
Tyrell dachte über die Worte der Frau nach. Reich. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es wäre, reich zu sein. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er reich gewesen war, aber die lag lange zurück. Das war vor dem Gefängnis gewesen. Bevor er zu Malcolm Tyrell geworden war. Er konnte sich gar nicht mehr richtig an diese Zeit erinnern. Alles, was er noch wusste, war, dass es keine schöne Zeit gewesen war. Und dann …
Dann war alles noch viel schlimmer geworden.
Aber wer reich war, der war glücklich, so viel wusste er. Das hatte man ihm erklärt. Und glücklich sein war etwas Gutes.
Er stand auf. »Na gut.«
»Dem Herrn sei Dank. Und jetzt –«
»Eine Sache noch.«
Wieder ein Seufzer. Tyrell sah der Frau an, dass sie sich sehr bemühen musste, um nicht wütend zu werden und wieder einen roten Kopf zu bekommen. Besonders gut gelang es ihr nicht.
»Was denn noch?« Ein erneuter Blick auf die Uhr. »Komm jetzt, wir haben keine Zeit für so was.«
»Ich will das kleine Mädchen sehen.«
»Das ist doch nicht zu fassen …«
»Ich will sehen, dass es ihr gutgeht.«
»Ihr geht’s prima. Ihr fehlt nichts. Komm
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