Jaeger
Tochter wiedersehen.
Darauf hatte sie bestanden. Das war ihre Bedingung für ein Treffen gewesen.
Die Stimme in der Leitung hatte sich zunächst nicht darauf einlassen wollen. »Nachdem Sie sich mit Ihrem Patienten unterhalten haben.«
»Hören Sie.« Marina bemühte sich um einen ruhigen, verbindlichen Tonfall. »Sie haben doch bereits mein Wort, dass ich mich mit Ihrem Patienten treffen werde. Ich habe es Ihnen versprochen. Aber wir verhandel n hier, und ich sage Ihnen jetzt, dass ich nicht mit ihm reden werde, bis ich nicht meine Tochter gesehen habe und mich davon überzeugen konnte, dass es ihr gutgeht.«
»Nein«, widersprach die Stimme. »Wir verhandeln hier nicht. Sie werden tun, was Sie versprochen haben, und danach bekommen Sie Ihre Tochter zurück.«
Marina war nach Schreien zumute. Hätte der Entführer in dem Moment vor ihr gestanden, wäre sie auf ihn losgegangen. Doch dann besann sie sich auf ihr Ziel. Sie wusste, dass sie nur dann etwas erreichen würde, wenn sie sachlich blieb. »Irrtum«, sagte sie betont langsam und deutlich. »Wir verhandeln hier sehr wohl. Sie haben mir gesagt, was Sie von mir wollen, und ich habe Ihnen mein Wort gegeben. Aber an meine Zustimmung sind gewisse Bedingungen geknüpft. Ich will vorher meine Tochter sehen. Wenn Sie sich weigern, gehe ich zur Polizei und sage alles.«
»Und was wird dann aus Ihrer Tochter?«
Wieder musste Marina lange mit sich kämpfen, bis sie den Mund öffnen konnte, ohne in wildes Kreischen auszubrechen. »Sie werden sie freilassen. Weil es dann nämlich keinen Grund mehr gibt, sie noch länger festzuhalten. Sie haben mir Ihren Plan auseinandergesetzt. Aber ohne meine Hilfe gibt es keinen Plan.«
Schweigen. Marina wartete angespannt. Auf einmal wurde ihr bewusst, dass sie am ganzen Leib zitterte. War sie zu weit gegangen? Wenn die Entführer ihre Bedingung nicht akzeptierten, würde sie Josephina womöglich nie wiedersehen. Sie befürchtete inzwischen, dass diese Leute, die zum Äußersten entschlossen gewesen waren, um ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen, und dafür sogar ein Kind entführt hatten, vielleicht vor nichts haltmachen würden.
»In Ordnung«, kam es plötzlich vom anderen Ende. In diesen zwei Worten schwangen zu gleichen Teilen Wut und Resignation mit. »Sie können sie sehen. Aber danach lösen Sie Ihren Teil der Abmachung ein. Sie kriegen sie nicht eher zurück, als bis Sie getan haben, was wir verlangen. Verstanden?«
Eine Woge der Erleichterung durchflutete Marina. »Danke. Sorgen Sie nur dafür, dass ihr nichts geschieht.«
»Ihr geschieht nichts. Und jetzt fahren Sie los.«
Die Verbindung wurde beendet. Wenig später bekam sie eine SMS mit neuen Koordinaten, die sie ins Navigationssystem eingab.
Unterwegs dachte sie über den Anrufer nach. Er hatte sich verändert. Er war nicht mehr so hart und unnachgiebig wie zu Anfang. Man konnte mit ihm reden. Sie wusste, dass eine solche Entwicklung bei Verhandlungen im Zusammenhang mit Entführungen oder Geiselnahmen keine Seltenheit war; manchmal entstanden sogar richtige Beziehungen zwischen den Verhandlungspartnern. Die Art, wie der Anrufer zu ihr sprach, legte den Schluss nahe, dass es sich um einen Amateur handelte. Ein Profi hätte jeden Diskussionsversuch umgehend abgeblockt, und wenn sie es auch nur gewagt hätte, Forderungen zu stellen oder die Kooperation zu verweigern, hätte er, ohne zu zögern, ihre Tochter dafür bezahlen lassen. Sie vielleicht sogar getötet.
Doch ihr Anrufer hatte sich auf ein Gespräch eingelassen. Bei diesem Gedanken spürte Marina einen Funken Hoffnung. Möglicherweise war die anfängliche Sturheit auf Angst zurückzuführen. Vielleicht hatte er nicht genau gewusst, wie er sich in dieser Situation verhalten sollte, und diese Unsicherheit hinter einer Maske zu verstecken versucht.
Sie war froh, dass sie einen Hinweis hinterlassen hatte. Nur einen kleinen, an der Tankstelle. Sie hoffte, dass jemand ihn finden, seine Bedeutung entschlüsseln und der Spur folgen würde.
Sie fuhr weiter, in Gedanken ganz bei ihrem Mann und ihrer Tochter.
Um ihretwillen musste sie stark sein.
40 Das Navigationssystem teilte dem Golem mit, dass er sein Ziel erreicht habe. Er zog den Zündschlüssel ab und nahm vom Wagen aus die nähere Umgebung in Augenschein, plante Zugriffsrouten und identifizierte mögliche Hindernisse. Das Haus war alt und heruntergekommen. Es stand allein, also gab es keine Nachbarn, die dazwischenfunken konnten. Neben dem Haus stand noch
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