Jaeger
gehen.
Es war einmal ein kleiner Junge, der hieß Stuart Milton. Stuart war anders als andere Kinder. Er hatte Lernschwierigkeiten. Er war sozial gehemmt und hinkte seinen Altersgenossen immer um mindestens einen Schritt hinterher. Aber er war ein guter Junge. Ein lieber Junge.
Ein harmloser Junge.
Er hatte seinen Vater nie kennengelernt, denn dieser hatte die Familie verlassen, als Stuart noch sehr klein gewesen war. Seine Mutter, Maureen Milton, hatte jede Arbeit angenommen, die sich ihr bot, um sich und ihren Sohn durchzubringen. Schließlich bekam sie eine Anstellung bei den Sloanes, einer Grundbesitzer-Familie. Die Sloanes waren, wie es in der firmeneigenen Image-Broschüre hieß, Inhaber eines »landwirtschaftlichen Großbetriebs und wichtigster Verarbeiter lokal gefangener bzw. gezüchteter Fische und Krustentiere, insbesondere Herzmuscheln, Miesmuscheln und Austern«. Maureen arbeitete als Putzfrau und Hausangestellte bei den Sloanes. Sie war fleißig, das wollen wir nicht bestreiten. Und sie besaß die Gabe, sich bei den meisten Menschen beliebt zu machen. Vor allem bei einem.
Jack Sloane war das Oberhaupt der Familie. Er hatte vor kurzem seine Frau verloren und befand sich in einem labilen seelischen Zustand. Er mochte Maureen und bat sie, bei ihm einzuziehen. Sie brachte ihren Sohn mit. Nun hatte Jack Sloane Maureen wirklich sehr gern und zeigte ihr dies auch. Maureen hatte keinerlei Bedenken, seine Aufmerksamkeiten anzunehmen. Jack hielt um ihre Hand an, und Maureen sagte ja. Es wurden Pläne für die Hochzeit geschmiedet, und Stuart wurde adoptiert. Nun war er ganz offiziell ein Mitglied der Familie Sloane.
Und wenn sie nicht gestorben sind …, hatte Marina gedacht. Doch dann hatte sich der Ton der E-Mail verändert. Er war anklagender geworden.
Doch nicht alle gönnten Jack und Maureen ihr Glück. Michael und Deanna, Jacks Kinder, glaubten hinter Maureens Fassade zu blicken. Sie sahen in ihr ein billiges, geldgieriges Flittchen und in ihrem Sohn Stuart einen armseligen, unnützen Trottel. Genau das sagten sie ihrem Vater auch vor der Hochzeit, und wie reagierte Jack? Indem er damit drohte, die beiden zu enterben.
Es folgte ein Link zu einem sechzehn Jahre alten Artikel aus der Lokalzeitung, dessen Schlagzeile lautete: Blutbad im Hochzeitshaus des Schreckens .
In dem Artikel war zunächst von der rauschenden Hochzeitsfeier und dem Glück des frischgebackenen Ehepaars die Rede. Doch dann war die Polizei am nächsten Tag an den Tatort eines der grausamsten und blutigsten Verbrechen gerufen worden, an die man sich erinnern konnte. Das Haus der Sloanes war vollständig verwüstet, sämtliches Porzellan zerschlagen, die Möbel umgestoßen und zertrümmert, Telefonkabel herausgerissen. Ein Wahnsinniger hatte der Familie mit einer Schrotflinte quer durchs Haus nachgestellt. Das Ergebnis: Jack Sloane und seine neue Ehefrau waren tot, Sohn Michael und Tochter Dee hatten – wohl weil der Täter sie für tot gehalten hatte – schwerverletzt überlebt. Graham Watts, ein Angestellter des Familienbetriebs, hatte die Polizei alarmiert. Als man den Schützen noch mit dem Jagdgewehr in der Hand im Haus vorfand, war das Entsetzen groß: Es war Stuart Sloane.
Auch was danach kam, wusste Marina noch. Stuart Sloane wurde verhaftet und angeklagt. Obwohl er volljährig war, vertraten seine Verteidiger die Auffassung, dass man ihm keinesfalls nach dem Erwachsenenstrafrecht den Prozess machen dürfe, da er geistig zurückgeblieben war. Sie engagierten so viele Psychologen und Psychiater, wie sie bezahlen konnten, damit diese Gutachten über Stuart vorlegten, die die Behauptung von einer eingeschränkten Schuldfähigkeit untermauerten.
Mehr als Schadensbegrenzung waren diese Maßnahmen jedoch nicht, und dessen war sich die Verteidigung auch durchaus bewusst. Zwar lagen ausschließlich Indizienbeweise gegen Stuart vor, diese jedoch waren in ihrer Masse geradezu erdrückend. Selbst seine Verteidiger zweifelten keine Sekunde daran, dass er schuldig war. Alles, was sie erreichen wollten, war, dass ihm das Gefängnis erspart blieb. Dass er seine Strafe in einer Einrichtung verbüßen konnte, in der man sich seiner Psyche annahm, statt ihr noch größeren Schaden zuzufügen.
Genau dies war der Grund, weshalb Marina – auch ohne die E-Mail – so gut über den Fall Bescheid wusste. Stuart Sloane war einer ihrer ersten Patienten gewesen. Sie hatte gerade ihren Abschluss gemacht und war sich im Klaren darüber gewesen,
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