Jaeger
dass frisch examinierte Psychologen eine solch einmalige Gelegenheit nur selten bekamen. Wenn sie die Sache richtig anging, konnten sich daraus jede Menge Folgeaufträge ergeben, außerdem bot sich ihr endlich die Chance, ihre Fähigkeiten in der Praxis unter Beweis zu stellen.
Und doch war der Grund, weshalb ihr der Fall in Erinnerung geblieben war, noch ein ganz anderer.
Sie hatte nie wirklich an Stuart Sloanes Schuld geglaubt.
Sie sah ihn noch vor sich, wie er in der Justizvollzugsanstalt Chelmsford ins Büro des Gefängnispsychologen geführt wurde. Alle bezeichneten ihn als Mann, weil er achtzehn Jahre alt war, doch als sie ihm zum ersten Mal gegenüberstand, dachte sie nur: Er ist doch noch ein Junge . Ein kleiner, hilfloser Junge, mager und wachstumsgestört nach einer von Mangelernährung geprägten Kindheit, und durch eine fehlerhafte Vernetzung irgendwo in seinem Gehirn in seiner geistigen Entwicklung gehemmt.
Nun blieb sie stehen und betrachtete die Bäume vor sich. Versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, was für Fragen sie ihm gestellt und wie er darauf geantwortet hatte. Sie konnte sich nicht mehr an alle Details ihres Gesprächs erinnern, wohl aber an seine Art und sein Auftreten. Er hatte so verloren gewirkt. Hätte man sie damals gebeten, ihren Eindruck von ihm in einem einzigen Wort zusammenzufassen, wäre es »verloren« gewesen. Er kam ihr vor wie ein Junge, der einsam durch die Großstadt irrte, weil er versehentlich die Hand seiner Mutter losgelassen hatte. Er hatte weder eine Vorstellung davon, was um ihn herum vorging, noch begriff er, wie ernst seine Lage war.
Man hatte ihn mit der Tatwaffe in der Hand gefunden, und daraus hatte die Polizei mit gutem Grund seine Täterschaft abgeleitet. Wie von Stuarts Strafverteidigern instruiert, war Marina dieser Schuldannahme gefolgt und hatte ihre Fragen daran ausgerichtet.
Was habe er im Haus gemacht? Könne er sich noch daran erinnern, was vorher geschehen war? Was habe er dabei empfunden, dass Jack Sloane seine Mutter geheiratet hatte? Konkrete, spezifische Fragen.
Doch seine Antworten wurden vage und ausweichend, sobald sie Einzelheiten von ihm erfahren wollte.
Er wisse nicht mehr, wie er sich gefühlt oder was er im Haus gemacht habe. Aber er habe sich für seine Mutter gefreut. Seine Mutter sei glücklich gewesen, also sei er auch glücklich gewesen.
Und wie seien seine Gefühle bezüglich seiner Mutter jetzt?
Jetzt sei er traurig. Sehr traurig. Er sah wirklich untröstlich aus, als er dies sagte. Doch dann veränderte sich seine Miene plötzlich, und er lächelte. Aber alles würde gut werden, fügte er hinzu. Das habe Jiminy Grille ihm versprochen.
Marina wurde sofort hellhörig und fragte weiter. Wer dieser Jiminy Grille sei? Warum alles gut werden würde?
Stuart blickte sie mit einem seligen Lächeln im Gesicht an. Jiminy Grille sei die Stimme seines Gewissens. Jiminy Grille habe gesagt, dass seine Mutter jetzt bei den Engeln im Himmel sei. Und Jiminy Grille habe einen Plan. Alles würde gut werden. Sie würde schon sehen.
Hinterher, im Gespräch mit den Verteidigern, wiederholte sie Stuarts Aussagen. Doch sie stieß damit nicht auf Erstaunen. Andere Psychologen hätten dasselbe berichtet, sagte man ihr. Sie seien zu dem Schluss gekommen, dass Stuart an einer dissoziativen Identitätsstörung litt. Sein ohnehin schon labiles Bewusstsein sei mit der Enormität seiner Tat überfordert gewesen, also habe er die Verantwortung dafür auf ein zweites, imaginäres Ich abgewälzt.
Marina widersprach. Sie war mit seiner Akte vertraut, bei Stuart hatte es bislang keinerlei Anzeichen einer Persönlichkeitsspaltung oder anderer dissoziativer Störungen gegeben. Sie glaubte, dass es sich bei Jiminy Grille um eine reale Person handelte, die zum fraglichen Zeitpunkt mit Stuart zusammen im Haus gewesen war. Darüber hinaus wies sie die Verteidigung darauf hin, dass Stuart keinerlei Kenntnis darüber zu haben schien, wie die Schießerei abgelaufen war. Ja, er wusste nicht einmal, wie man mit einem Gewehr umging. Angesichts all dieser Faktoren war sie nicht hundertprozentig davon überzeugt, dass er für die Morde verantwortlich war.
Dies alles sei richtig, räumten die Verteidiger ein, allerdings könne man genauso gut argumentieren, dass das Trauma seiner Tat die Persönlichkeitsspaltung erst hervorgerufen habe und das Wissen über den Gebrauch einer Schusswaffe sowie die zur Durchführung der Tat nötige Entschlossenheit im Nachhinein auf die
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