Jäger der Dämmerung
einfach weg. »Ich wollte nicht, dass sie es mitkriegen« – wie stark und wie tödlich ich sein kann – »deshalb überließ ich dem Jungen meine Handtasche.« Viel Geld war sowieso nicht drin gewesen. Vielleicht dreißig Dollar. Und keine Kreditkarten.
»Lass mich raten«, sagte Jude, der links von der Straße abbog. »Romeo hat den Taschendieb bestraft.«
»Er schlitzte ihm mit seinen Krallen die Kehle auf.« Erin sah auf ihre eigenen Fingernägel, die momentan kurz und manikürt waren. Was für ein Witz! »Jemand sah die zwei kämpfen und rief die Cops. Er kam nicht dazu, den Jungen zu töten.« Der Junge hatte knapp überlebt. »Ich hätte die Geschichten nicht einmal in Verbindung gebracht. Ich wurde überfallen, und in den Nachrichten kommt etwas über einen Teenager mit einer komischen Messerwunde.« Klar. »Ich meine, solche Sachen passieren täglich.«
Jude fuhr in seine Einfahrt. Von hier aus konnte Erin schon seine Hütte sehen. Direkt an der Stelle, an der sich Wald und Sumpf zu begegnen schienen. Die Silhouette zeichnete sich deutlich vor den glitzernden Sternen und dem hellen Mond ab.
Zwar stellte er den Motor aus, doch machte Jude keine Anstalten, aus dem Truck zu steigen. Erin ebenso wenig. Bring’s hinter dich. Erzähl ihm alles.
Eine Berührung an ihrer Schulter.
Erin drehte den Kopf und stellte fest, dass Judes große blaue Augen auf sie gerichtet waren. Sie leuchteten im gedämpften Licht des Wageninnern.
»Wie hast du herausgefunden, dass es dein Verehrer war?«
Wieder musste Erin ihre Lippen benetzen. Es war eine nervöse Angewohnheit. Sie bemerkte, wie sein Blick zu ihrem Mund wanderte und zurück. »Als ich am nächsten Abend von der Arbeit kam, war meine Handtasche da. Blutbefleckt. Er hatte mir eine Nachricht geschrieben. Der Bastard hinterlässt immer solche kleinen Nachrichten.« Auf denen sich allerdings nie ein Fingerabdruck fand. Die Jungs im Labor von Lillian waren ihr ein paar Gefallen schuldig gewesen.
Die Botschaft war schlicht gewesen. Schlicht und entsetzlich.
Ich habe dafür gesorgt, dass der Mistkerl bezahlt.
Danach war er in ihr Haus eingebrochen. Zum ersten Mal. Es gab kein Sicherheitssystem, das ihn abschreckte. Und weil sie war, was sie war, kam für sie die Anschaffung eines großen, richtig bösen Hundes nicht in Betracht.
Nicht dass ein Hund ihn aufgehalten hätte. Oder auch nur verlangsamt.
Erin wollte den Blick senken, zwang sich jedoch, es nicht zu tun. Stattdessen reckte sie ihr Kinn, sah Jude in die Augen und sagte: »Von da an eskalierte es.« Ihre Narbe schien zu brennen.
Erzähl’s ihm!
»Und du bist weggelaufen.« Jude schüttelte den Kopf und trommelte mit den Fingern der linken Hand auf das Lenkrad. »Keine Cops …«
»Lillian ist nicht wie Baton Rouge.« Zu klein. Nicht die Atmosphäre und Anonymität, wie sie die meisten Paranormalen wünschten. »Die Cops hätten gar keinen Schimmer gehabt, wie sie mit dem Kerl fertigwerden.«
Das Trommeln erstarb. »Ich habe einen Schimmer.«
Ja, das wusste sie, und dank Jude schöpfte sie tatsächlich Hoffnung, der Alptraum könnte endlich aufhören. Könnte.
Ich bin nicht mehr allein.
Sie strich vorsichtig über seine Wange. Ihr gefiel das leichte Kratzen der Bartstoppeln.
Jude hielt sehr still, blickte ihr in die Augen. Dann bewegte sich sein Kopf ein wenig. Er schmiegte sich an ihre Hand, wie es eine Katze tat, die gekrault werden wollte.
Auf einmal kam ihr das Wageninnere sehr, sehr klein vor.
Sag’s ihm!
Aber er betrachtete sie mit diesem Verlangen, dieser Lust.
Ich will ihn. Genau wie beim ersten Mal. Ohne irgendwas zurückzuhalten, ohne die Furcht, sie könnte ihm wehtun.
Hier draußen waren sie allein, weit weg von neugierigen Blicken und lauschenden Ohren.
Allein.
Einmal noch. Sie wollte ihn wieder. Durfte sie nicht gierig sein? Ein kleines bisschen Gier tat doch niemandem weh.
Ihre Zungenspitze glitt über ihre Unterlippe, und sie wünschte, sie könnte ihn schmecken.
Tu’s!
Sie beugte sich zu ihm und hörte, wie er einatmete. Ihre Lippen waren Millimeter von seinen entfernt.
»Weißt du nicht«, raunte er so tief, dass sie erschauerte, »dass man mit einem Tiger nicht spielt?«
Ach, aber ein Tigerwandler war exakt die Sorte Kerl, mit der sie spielen wollte! »Ich kann dich nicht verletzen.« Die Worte rutschten ihr heraus, und sie wich entsetzt zurück. Nein! Sie hatte das nicht gesagt!
Er hob den Kopf und sah sie erstaunt an. »Ah, ja, das leuchtet ein.«
Was?
Jude
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