Jäger der Dämmerung
ihm aufzunehmen?
Nicht wenn er sich verwandelte. Dann konnte sie unmöglich mit ihm fertigwerden; in seiner menschlichen Gestalt hingegen, tja, da kriegte sie ihn am Arsch. Ein netter kleiner Vorteil, den ihr das Erbe mütterlicherseits bescherte.
Auch wenn es der lieben Mama völlig egal war, wie stark ich bin.
Erin atmete aus. Fliehen oder kämpfen? Die Entscheidung war leicht, denn sie war das Wegrennen gründlich leid.
Ihr Handy vibrierte in der Tasche, und gleich auf das Zittern folgte ein schrilles Klingeln.
Verdammt!
Erin riss das Telefon hervor. Jude. Inzwischen erkannte sie seine Nummer. Sie drückte den Knopf auf dem Display und hielt sich den kleinen Apparat ans Ohr. »Er ist hier«, flüsterte sie.
Rauschen und Knistern. In Treppenhäusern herrschte immer ein grausiger Empfang. »Jude, der Mistkerl ist hier!« Er wartete hinter der Tür auf sie.
»Was? Wo bist du?«
»Im Gericht.« Sie sollte gar nicht hier sein. Für den Fall war ein anderer Staatsanwalt zuständig, aber der wollte den Durchsuchungsbefehl erst morgen früh beschaffen, und die Fahnder brauchten jemanden, der umgehend handelte. »Tiefgarage«, hauchte sie. »Ich kann ihn riechen.« Sie fühlte ihn fast.
»Dann nichts wie raus da! Gib ihm keine Chance, dir nahe zu kommen!«
»Diesmal komme ich ihm nahe.« Kein Weglaufen mehr, keine Toten mehr, kein Blut mehr in ihrem Haus.
»Nein! Nein, ich komme. Mist! Ich bin unterwegs!«
»Beeil dich«, flüsterte sie und beendete das Gespräch. Beeil dich, denn ich renne nicht wieder weg.
Er war zu nahe. Sie konnte nicht einfach hier stehen und ihn entkommen lassen. Wenn er ihr entwischte, könnte er jemand anderen angreifen, für sie.
Erin sah Lees blutiges Gesicht vor sich. Der Anwalt lag auf der Intensivstation, an unzählige Nadeln und Schläuche angeschlossen. Wegen ihres Stalkers?
Es darf nicht noch jemand verletzt werden. Sie konnte nicht tatenlos zusehen, wie weitere Menschen dem Zorn des Gestaltwandlers zum Opfer fielen.
Der kranke Bastard musste aufgehalten werden, und sie würde ihn mit allen Mitteln bekämpfen.
Beeil dich, Jude!
Dann veränderte sich der Geruch.
Scheiße, Scheiße, Scheiße!
Als Jude seinen Pick-up mit kreischenden Bremsen in der dämmrigen Tiefgarage anhielt, waren seine Krallen ausgefahren, seine Reißzähne entblößt und Jude bereit.
Außerdem hatte er Angst, schreckliche Angst. Wann war das letzte Mal gewesen, dass er sich vor irgendwas gefürchtet hatte?
Sie sollte lieber okay sein. Sie sollte lieber sicher sein, vollständig unverletzt. Denn falls sie auch bloß einen Kratzer hatte, wird dieser Irre flehen, sterben zu dürfen.
Flehen.
Er stieß die Fahrertür auf, sprang heraus und rannte quer über den Parkbereich. Seine Nasenspitze zuckte, als er den anderen Gestaltwandlergeruch aufnahm. Er war Erin bis hierher gefolgt.
»Er ist weg«, hörte Jude Erins ruhige, feste Stimme.
Jude fuhr herum und entdeckte sie vor einer offenen Tür zum Treppenhaus.
Sie war allein. Das gab’s doch nicht! »Wieso hast du keine Hilfe geholt?«, platzte es aus Jude heraus, tiefer als sonst, weil das Tier in ihm gleich unter der Oberfläche wartete. Sie war hiergeblieben, nein, hatte sogar nach dem Freak gesucht! War die Frau wahnsinnig?
»Ich bin es leid, vor ihm wegzulaufen, Jude. Das habe ich versucht, und es hat nicht funktioniert.« Sie schüttelte den Kopf. »Das Spiel mache ich nicht mehr mit.«
Binnen zwei Sekunden war er bei ihr, packte ihre Arme und zog sie an sich. »Das ist kein Spiel. Er ist ein Killer. Ein kaltblütiger, durchgeknallter Killer.« Jude sah noch das Blut an ihren Wänden vor sich und das Grinsen, das Bobby ins Gesicht geschlitzt wurde. Ein Spiel? »Wenn er dich kriegt, wird er …«
»Ich weiß genau, was er dann tut.« Erin entwand sich ihm. Sie wich aus seiner Umarmung, als hätte er sie gar nicht festgehalten. Wieso vergesse ich dauernd, wie stark sie ist?
Ihr Blick war starr. »Er hat mich schon mal erwischt.«
Judes Herzschlag setzte aus. Nein, nicht hier. Er wollte das nicht hier hören, umgeben vom Gestank des Kerls. Jude drehte sich um und blickte in die Schatten. »Woher zum Teufel weißt du, dass er nicht mehr da ist?«
Schweigen.
Jude sah wieder zu ihr. »Erin?«
Sie hob die Hand und wies nach rechts. »Er hat mir ein Geschenk dagelassen.«
Als Jude ein Stück vortrat, bemerkte er die Rosen an der Betonmauer.
Frisch. Blutrot. Diesmal keine blutige Nachricht, sondern Blumen.
Oh ja, ein wahrhafter Romeo!
»Das
Weitere Kostenlose Bücher