Jäger der Macht: Roman (German Edition)
die gerade um eine Ecke verschwand. Sie rannte hinterher, hielt dabei ihre Handtasche in festem Griff und suchte darin nach dem kleinen Revolver, den Waxillium ihr gegeben hatte.
Was tue ich hier?, dachte sie. Warum renne ich allein eine dunkle Gasse entlang? Das war nicht besonders vernünftig. Sie hatte aber das Gefühl, es tun zu müssen.
Kurze Zeit lief sie so dahin. Hatte sie die Gestalt verloren? Sie blieb an einer Kreuzung stehen, wo eine noch schmalere Gasse abzweigte. Ihre Neugier war fast unerträglich.
An der Einmündung der kleineren Gasse stand ein großer Mann in einer schwarzen Robe und wartete auf sie.
Sie keuchte auf und machte einen Schritt zurück. Der Mann war mehr als sechs Fuß groß, und die Robe, in die er eingehüllt war, verlieh ihm ein bedrohliches Aussehen. Er hob die bleichen Hände, nahm seine Kapuze ab und enthüllte einen kahlgeschorenen Kopf sowie ein Gesicht, das komplizierte Tätowierungen um die Augen herum aufwies.
In diese Augen waren zwei Stachel getrieben, die wie dicke Nägel aussahen. Die eine Augenhöhle war deformiert, als ob sie eingedrückt worden sei. Lange verheilte Narben und knochige Wulste unter der Haut störten die Tätowierung.
Marasi kannte dieses Geschöpf aus der Mythologie, aber nun, da sie ihm gegenüberstand, fühlte sie ein kaltes Entsetzen. » Eisenauge«, flüsterte sie.
» Ich entschuldige mich dafür, dich auf diese Weise hierhergebracht zu haben«, sagte das Eisenauge. Der Mann hatte eine ruhige, kehlige Stimme.
» Auf diese Weise?«, fragte sie. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Quieken.
» Mit Gefühlsallomantie. Manchmal ziehe ich zu stark. Ich bin darin nie so gut gewesen wie Weher. Sei ganz ruhig, mein Kind. Ich werde dir nichts tun.«
Sofort wurde sie tatsächlich ruhig, auch wenn es ihr schrecklich unnatürlich erschien. Dadurch fühlte sie sich noch schlechter. Sie war ganz ruhig, aber dabei war ihr übel. Man sollte nicht ruhig sein, wenn man mit dem Tod höchstpersönlich sprach.
» Dein Freund hat etwas sehr Gefährliches entdeckt«, sagte Eisenauge.
» Und du willst, dass er damit aufhört?«
» Aufhören?«, meinte Eisenauge. » Überhaupt nicht. Ich will bloß, dass er informiert ist. Der Einträchtige hat ganz besondere Ansichten darüber, wie die Dinge laufen sollen. Ich stimme nicht immer mit ihm überein. Seltsamerweise erfordert es sein Glaube, dass er das hier erlaubt.« Das Eisenauge griff in die Falten seines Umhangs und holte ein kleines Buch hervor. » Darin befinden sich Informationen. Behandle es sorgfältig. Du kannst es lesen, wenn du willst, aber übergib es danach in meinem Namen an den Großherrn Waxillium.«
Sie nahm das Buch entgegen. » Entschuldigung«, sagte sie und versuchte sich durch die Benommenheit zu kämpfen, die er bei ihr verursacht hatte. Sprach sie hier tatsächlich gerade mit einer mythischen Gestalt? Oder wurde sie allmählich verrückt? Sie konnte kaum mehr klar denken. » Warum bringst du es ihm nicht selbst?«
Mit einem schmallippigen Lächeln betrachtete das Eisenauge sie mit den Spitzen seiner silbernen Stacheln. » Ich habe das Gefühl, dass er versuchen würde, mich zu erschießen. Er mag keine unbeantworteten Fragen, aber er macht die Arbeit meines Bruders. Deshalb fühle ich mich verpflichtet, ihn zu ermuntern. Ich wünsche dir noch einen guten Tag, Herrin Marasi Colms.«
Eisenauge drehte sich um, wobei sein Umhang raschelte, und ging die Gasse hinunter. Er setzte seine Kapuze wieder auf, hob sich dann in die Luft und ließ sich von seiner Allomantie über die Dächer der Häuser tragen. Er verschwand aus ihrem Blickfeld.
Marasi hielt das Buch fest und steckte es dann mit zitternden Fingern in ihre Handtasche.
Waxillium landete vor dem Bahnhof und ließ sich von seinem allomantischen Flug entlang der Schienen so sanft wie möglich nieder. Beim Aufsetzen schmerzte ihn das Bein.
Wayne saß auf dem Bahnsteig, hatte die Füße auf ein Fass gelegt und rauchte seine Pfeife. Den Arm trug er noch in einer Schlinge. Er war nicht mehr in der Lage, seine Verletzungen schnell heilen zu lassen, denn er hatte keine Heilkraft mehr in seinen Speichern. Wenn er nun neue Kräfte anlegte, würde der Heilungsprozess währenddessen noch langsamer ablaufen, nur um sich danach durch das Berühren des Metallgeistes wieder zu beschleunigen. Daraus ergab sich also kein Gewinn.
Wayne las gerade einen dünnen Roman, den er irgendjemandem auf der Zugreise aus der Tasche gezogen hatte. Vermutlich hatte er
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