Jäger der Macht: Roman (German Edition)
eines von Tans ersten Opfern gewesen, und sein Verschwinden hatte Wax überhaupt erst zu dieser Jagd veranlasst. Das war erst vor zwei Monaten gewesen.
Er ist mumifiziert worden, dachte Wax. Getrocknet und gegerbt wie Leder. Es war abstoßend. Manchmal hatte er mit Geormin etwas getrunken, und obwohl der Mann beim Kartenspiel betrogen hatte, war er doch ein liebenswürdiger Knabe gewesen.
Er hing nicht an einem gewöhnlichen Strick. Geormins Arme waren mit Draht umwickelt, so dass sie zu den Seiten ausgebreitet waren; der Kopf war geneigt und der Mund gewaltsam geöffnet worden. Wax wandte sich von diesem schrecklichen Anblick ab; in seinem Auge zuckte es.
Vorsichtig, sagte er zu sich selbst. Du darfst nicht zulassen, dass er dich wütend macht. Konzentrier dich. Er würde Geormin später abschneiden. Jetzt durfte er es sich nicht leisten, auch nur den geringsten Lärm zu verursachen. Wenigstens wusste er nun, dass er auf der richtigen Spur war. Dies hier war eindeutig das Versteck des Verdammten Tan.
In der Ferne schwebte ein weiterer Lichtfleck. Wie lang war dieser Tunnel bloß? Wax näherte sich der Helligkeit und entdeckte noch eine Leiche, die seitwärts geneigt an der Wand hing. Es handelte sich um Annarel, eine Geologin, die kurz nach Geormin verschwunden war. Arme Frau! Man hatte sie auf dieselbe Art getrocknet, und ihr Körper war in einer besonderen Pose an die Wand genagelt worden. Es wirkte, als würde sie gerade niederknien und einen Felsen untersuchen.
Ein weiteres Licht trieb ihn vorwärts. Dies hier war eindeutig kein Keller. Vermutlich handelte es sich um einen Schmugglertunnel aus der Zeit, als Feltrel eine aufstrebende Stadt gewesen war. Tan hatte das hier nicht erbaut – dazu waren die Stützbalken zu alt.
Wax kam an sechs weiteren Leichen vorbei. Jede wurde von einer brennenden Laterne erhellt und war in einer bestimmten Pose angeordnet. Eine saß auf einem Stuhl, eine andere war aufgehängt worden, als würde sie fliegen, und einige waren an die Wand genagelt. Die späteren Leichen waren frischer, und das letzte Opfer war erst vor ganz kurzer Zeit getötet worden. Wax kannte den schlanken Mann nicht, der da hing, die Hand zum Salut erhoben.
Rost und Ruin, dachte Wax. Das ist nicht bloß Tans Versteck – das ist seine Galerie.
Angeekelt machte sich Wax zum nächsten Lichttümpel auf. Dieser hier war anders. Heller. Als er näher kam, begriff er, dass er das Sonnenlicht sah, das durch eine viereckige Öffnung in der Decke hereinfiel. Der Tunnel führte darauf zu; es war möglicherweise der Zugang zu einer Falltür, die schon vor langer Zeit verrottet war. Der Boden hob sich sanft in Richtung des Loches.
Wax kroch den Hang hoch und steckte den Kopf vorsichtig hinaus. Er befand sich in einem Gebäude, das kein Dach mehr besaß. Die Ziegelmauern standen noch, und links von Wax befanden sich vier Altäre. Es handelte sich um eine alte Kapelle des Überlebenden. Sie schien leer zu sein.
Wax kletterte aus dem Loch und hielt dabei den Sterrion in Kopfhöhe. Sein Mantel war vom Schmutz dort unten fleckig geworden. Die saubere, trockene Luft roch gut.
» Jedes Leben ist ein Theaterstück«, sagte eine Stimme, die in der Kirchenruine widerhallte.
Sofort sprang Wax zur Seite und rollte sich hinter einen Altar.
» Aber wir sind keine Schauspieler«, fuhr die Stimme fort. » Wir sind Puppen.«
» Tan«, sagte Wax. » Komm heraus.«
» Ich habe Gott gesehen, Gesetzeshüter«, flüsterte Tan. Wo war er? » Ich habe auch den Tod gesehen, mit den Nägeln in den Augen. Und ich habe den Überlebenden gesehen, der das Leben selbst ist.«
Wax sah sich hastig in der kleinen Kapelle um. Sie war von zersplitterten Bänken und heruntergefallenen Statuen übersät. Er umrundete den Altar seitlich und bemerkte, dass die Stimme aus dem hinteren Teil des Raumes kam.
» Andere Menschen rätseln darüber«, sagte Tan, » aber ich weiß es. Ich weiß, dass ich eine Marionette hin. Das sind wir alle. Hat dir meine Ausstellung gefallen? Ich habe so hart daran gearbeitet.«
Wax schlich an der rechten Wand des Gebäudes entlang; seine Stiefel hinterließen eine Spur im Staub. Er atmete flach; ein Schweißtropfen rann ihm an der rechten Schläfe herunter. Sein Auge zuckte. Immer wieder sah er die Leichen an den Wänden.
» Viele Menschen erhalten nie die Möglichkeit, wahre Kunst zu schaffen«, meinte Tan. » Und die besten Darbietungen sind diejenigen, die niemals wiederholt werden können. Monate, ja sogar
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