Jäger der Macht: Roman (German Edition)
Jahre werden mit der Vorbereitung verbracht. Alles wird an die richtige Stelle gesetzt. Aber am Ende des Tages beginnt die Verwesung. Ich konnte die Körper nicht richtig mumifizieren; dazu hatte ich weder die Zeit noch die Mittel. Ich schaffte es nur, sie so lange zu erhalten, wie es für diese eine Ausstellung nötig war. Schon morgen wird alles zerstört sein. Du bist der Einzige, der sie gesehen hat. Nur du. Ich glaube … wir sind allesamt Marionetten … weißt du …«
Die Stimme kam tatsächlich aus dem hinteren Teil des Raumes, wo ein Schutthaufen Wax die Sicht versperrte.
» Jemand anders bewegt uns«, sagte Tan.
Wax hastete um den Schutthaufen herum und hob seinen Sterrion wieder an.
Dort stand Tan und hielt Lessie vor sich. Sie war geknebelt und hatte die Augen weit aufgerissen. Wax erstarrte mit dem Revolver in der Hand. Lessie blutete aus mehreren Wunden an Arm und Bein. Sie war angeschossen worden, und ihr Gesicht wurde immer blasser. Sie hatte viel Blut verloren. Aus diesem Grunde hatte Tan sie überwältigen können.
Wax regte sich nicht. Er verspürte keine Angst. Das konnte er sich auch nicht leisten, denn sie würde ihn zum Zittern bringen, und dann bestand die Gefahr, dass er sein Ziel verfehlte. Er sah Tans Gesicht hinter Lessie; der Mann hatte ihr eine Garotte um den Hals gelegt.
Tan war ein schlanker Mann mit feingliedrigen Fingern. Er war einmal Leichenbestatter gewesen. Sein ausgedünntes, zurückgekämmtes Haar war schwarz und mit Pomade an den Schädel geklebt. Der hübsche Anzug war blutbeschmiert.
» Jemand anders bewegt uns, Gesetzeshüter«, sagte Tan leise.
Lessie sah Wax in die Augen. Beide wussten, was sie in dieser Lage zu tun hatten. Beim letzten Mal war er derjenige gewesen, der gefangen genommen worden war. Es wurde immer wieder versucht, sie beide gegeneinander auszuspielen. Nach Lessies Meinung war das nicht unbedingt ein Nachteil. Wenn Tan nicht gewusst hätte, dass sie beide ein Paar waren, hätte er sie sofort getötet. Doch so hatte er sie nur in seine Gewalt gebracht. Das ließ ihnen die Möglichkeit, ihm zu entkommen.
Nun senkte Wax den Lauf seines Sterrion. Er drückte gegen den Abzug, bis er kurz vor dem Schuss stand, und Lessie blinzelte. Einmal. Zweimal. Dreimal.
Wax schoss.
Im selben Augenblick riss Tan Lessie nach rechts.
Der Schuss peitschte durch die Luft und hallte von den Lehmziegeln wider. Lessies Kopf wurde zurückgeworfen, als Wax’ Kugel oberhalb des rechten Auges eindrang. Blut spritzte gegen die Lehmwand neben ihr. Sie sackte zusammen.
Wax stand erstarrt und entsetzt da. Nein … so sollte es nicht … es kann nicht …
» Die besten Darbietungen«, sagte Tan und schaute lächelnd auf Lessies Gestalt herunter, » sind diejenigen, die nur ein einziges Mal gegeben werden können.«
Wax schoss ihm in den Kopf.
Kapitel 1
F ünf Monate später ging Wax durch die kostbar ausgestatteten Räume, in denen eine große, lebhafte Gesellschaft gegeben wurde. Er kam an Männern in dunklen Fräcken vorbei und an Frauen in farbenprächtigen Kleidern mit engen Taillen und vielen Falten in ihren langen Plisséeröcken. Sie nannten ihn Großherr Waxillium oder Großherr Ladrian, wenn sie mit ihm sprachen.
Er nickte allen zu, vermied es aber, sich in ein Gespräch hineinziehen zu lassen. Wax begab sich in eines der Hinterzimmer, wo blendende elektrische Lichter – von denen inzwischen die ganze Stadt sprach – ein stetiges, fast zu gleichmäßiges Licht spendeten und damit das abendliche Düster vertrieben. Hinter den Fenstern sah er Nebel, der Tropfen auf dem Glas bildete.
Ohne auf die Anstandsregeln zu achten, trat Wax durch die gewaltige, verglaste Doppeltür hinaus auf den großen Balkon des Herrenhauses. Hier hatte er endlich wieder das Gefühl, durchatmen zu können.
Er schloss die Augen, zog die Luft tief ein, ließ sie wieder hinaus und spürte die leichte Feuchtigkeit des Nebels auf dem Gesicht. Gebäude sind so … erstickend hier in der Stadt, dachte er. Hatte ich das einfach nur vergessen, oder habe ich es nicht bemerkt, als ich jünger war?
Er öffnete die Augen wieder, stützte sich mit den Händen auf dem Balkongeländer ab und schaute hinaus auf Elantel. Es war die größte Stadt der Welt, eine Metropolis, die vom Einträchtigen selbst entworfen worden war. Es war der Ort, an dem Wax seine Jugend verbracht hatte. Ein Ort, der schon seit zwanzig Jahren nicht mehr seine Heimat war.
Obwohl Lessies Tod schon fünf Monate zurücklag,
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