Jäger der Nacht (German Edition)
alles vorhergesehen haben. Sonst wäre nie ein Mord geschehen und niemals hätten Katastrophen Tausende von Opfern gefordert.“ Sie hatte darüber nachgedacht. „Vielleicht hätten wir also verhindern können, was Ihnen geschehen ist, vielleicht aber auch nicht.“
„Sie hätten es zumindest versuchen können, wenn Sie sich in der Welt aufgehalten hätten.“
„Ja.“ Das konnte man nicht abstreiten. „Ja.“
Die nächsten fünf Minuten sagte sie nichts. Sie verbrachte die Zeit damit, über ihre eigenen Worte nachzudenken. Es war eher eine Vermutung, auch wenn sie glaubte, dass sie stimmte. Sie wusste nicht, was V-Mediale in der Vergangenheit gesehen hatten. Diese Berichte waren aus dem Medialnet gelöscht worden, waren für immer in den Mysterien der Zeit verschwunden.
Dann beschlich sie eine leise Vorahnung, genauso unsicher wie der Mann neben ihr. Dorian. Der gebrochene, zerstörte Dorian würde eines Tages wieder heil sein. Und zwar auf eine Weise, die er sich selbst nie hätte vorstellen können. Sie hatte deutlich sein Bild vor Augen, ein wunderschöner Leopard mit dunkler Zeichnung im Gesicht, und Leopardenaugen, mehr grün als blau.
Das Bild verschwand wieder, und sie fragte sich, ob sie ihm etwas davon mitteilen sollte. Es war keine wirkliche Vision gewesen, sie hatte keine Einzelheiten gesehen. Aber er war älter gewesen. Nicht wirklich alt, aber mindestens zwei oder drei Jahre älter als jetzt. Was wäre, wenn sie ihm davon erzählte und durch irgendetwas, was er oder seine Gefährten taten, sich die Vorahnung doch nicht bestätigte? Sie hätte ihm falsche Hoffnungen gemacht. Es fiel ihr schwer, aber sie beschloss, ihr Wissen für sich zu behalten. Manchmal war Schweigen das Richtige. Es wurde nur zum Käfig, wenn man keine Wahl hatte.
„Ich habe gehört, Sie haben eine Schwester verloren.“
Sie schnappte erstaunt nach Luft, so sehr hatte sie sich schon an sein Schweigen gewöhnt. „Marine. Sie hieß Marine.“
„Meine Schwester hieß Kylie.“
Sie sahen sich an und Faith begriff. Er würde versuchen, ihr zu vergeben, was sie war, wenn sie dafür sorgte, dass niemand mehr seine Schwester verlor. „In Ordnung.“
Vaughn kehrte drei Stunden vor dem Morgengrauen zurück. Die Kaffeetassen auf dem Tisch und die wachen Gesichter der Frauen zeigten ihm, dass weder sie noch Sascha geschlafen hatten. Als er auftauchte, stand Faith auf und kam ihm entgegen. Wortlos nahm er ihre Hand, und zum zweiten Mal in dieser Nacht verließen sie Lucas und seine Frau.
Sie sprachen auch auf dem Weg zum Wagen kein Wort. Dorian hatte den Sprengsatz entfernt, aber Vaughn sah noch einmal genau nach, bevor er die Beifahrertür für Faith öffnete. Die Katze hielt weiter Ausschau nach Verdächtigem – er würde erst wieder ruhig atmen, wenn sie in seinem Reich waren.
Sie brauchten fast eine Stunde für den Heimweg, aber keiner von beiden konnte schlafen, nachdem sie endlich daheim waren. Faith stellte keine Fragen, wollte keine Antworten. Sie sah zu, als er unter die Dusche ging, zog sich dann ebenfalls aus und gesellte sich zu ihm. Er spürte, dass sie sich Sorgen machte.
„Es gab keine Probleme“, berichtete er. „Sie werden gar nicht bemerken, dass wir dort waren.“
„Bei Nikita Duncan?“
„Und bei ein paar anderen, die dem Rat auf höchster Ebene nahestehen.“ Er hatte heftig gegen das Bedürfnis ankämpfen müssen, einfach hineinzugehen und noch ein paar Medialenschädel zu zertrümmern.
„Ich habe gespürt, dass keine Gefahr bestand und du nicht verletzt warst.“
„Gut so.“ Er wollte, dass sie sich an das Band gewöhnte, hatte nichts dagegen, dass sie nachschaute, wie es ihm ging. Das taten Mann und Frau nun mal. Er konnte das Band zwar nicht sehen, aber er spürte es – er würde immer wissen, wenn sie in Schwierigkeiten war oder verletzt.
Sie verfiel wieder in Schweigen. Er hob sie aus der Dusche und trocknete sie beide ab. Sie wehrte sich nicht, als er sie zum Bett trug. Und als er sie in Besitz nahm, gab sie sich ihm hin. Danach lagen sie ineinander verschlungen da und sahen zu, wie die Morgenröte ihre Strahlen ins Zimmer schickte.
Faith legte ihre Wange auf seine Brust, ihre Hand lag über seinem Herzen. Sie weinte. Er streichelte ihre Haare und ihren Rücken, weil er nicht wusste, wie er sie sonst trösten sollte. Aber ihm war klar, dass diese Tränen nichts mit ihm zu tun hatten. Er legte beide Arme um sie, und der Jaguar flüsterte ihr heisere Trostlaute ins Ohr.
Viele Minuten
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