Jäger der Nacht (German Edition)
hat, habe ich mir immer vorgestellt, dass wir zwei als Kinder zusammen spielten. Sie war eine Fantasiegestalt, die einzige Freundin, die ich hatte und brauchte.“
Aber in ihrem realen Umgang miteinander hatte es keinerlei Hinweise auf Freundschaft gegeben, sie waren zwei vollkommene Mediale gewesen, in deren Adern nur Eiswasser floss. „Nun werde ich sie niemals kennenlernen. Sie ist fort.“ Für immer.
Sie blickte starr auf einen Punkt hinter Vaughn. Als er sich neben sie stellte und ihr mit der Hand über die Haare strich, bat sie ihn, nicht fortzugehen. Sie wollte spüren, dass er ihre stille Trauer wahrnahm. Jemand musste von Marine erfahren, damit er sich erinnern konnte, wenn Faith nicht überlebte.
Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie, wie eine einzelne Träne über ihr Gesicht lief, heiß und rein wie flüssiges Feuer. „Man hat sie aus reiner Blutgier ermordet, nur weil die Dunkelheit Schmerz und Qualen braucht. Und ich war zu schwach, um es zu verhindern. “ Sie fuhr sich mit einer Hand über das Herz, wie um die Schmerzen der Schuld zu lindern, die wie ein Knoten in ihrer Brust feststeckte.
„Du konntest gar nichts tun.“ Vaughns Stimme klang so bewusst sanft, dass es fast wehtat.
„Wirklich nicht? Vielleicht war ich aber auch nur zu feige und wollte nicht sehen, was die Visionen mir sagen wollten.“
„Die Schuld wird dich ein Leben lang begleiten“, sagte er mit der Offenheit der Gestaltwandler, „aber du kannst verhindern, dass sie dich von innen her auffrisst.“
„Wie denn?“
„Indem du etwas tust, was einen Ausgleich schafft, indem du die Tochter oder die Schwester eines anderen rettest.“ Wie ein scharfes Messer traf sie die Erkenntnis mit jedem seiner Worte.
Sie sah ihm ins Gesicht und war nicht verwundert, dass seine Augen so sehr die der Katze waren. „Magst du mir von ihr erzählen?“ Sie wusste, dass dieser Jaguar ein Sonderling war. Aber sie wollte, dass er ihr das anvertrauen konnte.
Die Hand in ihrem Haar lag vollkommen still. „Meine Schwester ist verhungert, weil ich zu jung und zu schwach war, ihr genügend Nahrung zu beschaffen. Ich vermisse sie jeden Tag.“
Zum ersten Mal in ihrem Leben streckte Faith die Hand aus, um jemanden zu trösten. Es war nur eine leichte Berührung am Oberschenkel, aber in ihr lag so viel Mitgefühl, dass Vaughn, ohne näher darauf einzugehen,ihr erneut über den Kopf strich.
„Wie hieß sie?“
„Skye.“ Seine Stimme rutschte tiefer, hörte sich kaum noch menschlich an. „Wir hatten nichts als die Kleider, die wir am Leib trugen, als uns unsere Eltern in einem Raubtierterritorium aussetzten.“
„Aber sie waren doch Gestaltwandler.“
„Auch Tiere können böse sein.“ Vaughns Oberschenkelmuskeln wurden steinhart. „Meine Eltern waren nicht böse, aber sie wurden dazu getrieben – wenn ich etwas anderes glauben müsste, würde ich wahnsinnig werden.“
Sie sagte nichts, versuchte ihm nur dieselbe Anteilnahme zuteilwerden zu lassen, die er ihr gezeigt hatte.
„Meine Eltern waren sehr jung und noch unverheiratet, als sie mich bekamen – die meisten Jaguare halten sich nicht an menschliche Bräuche. Drei Jahre danach wurde Skye geboren. Als sie zweieinhalb war, traten meine Eltern einer anderen Kirche bei und heirateten. Bald danach gaben sie all ihre weltlichen Besitztümer auf und zogen in eine Kommune.“ Vaughns Stimme wurde hart. „Das wäre auch nicht weiter schlimm gewesen, wenn mir nicht irgendwann aufgefallen wäre, wie komisch die ‚Ältesten‘ Skye anschauten. Sie war noch ein Kleinkind und sie wollten sie antatschen.“
Faith konnte sich so etwas Entsetzliches kaum vorstellen. „Und du hast sie beschützt.“
„Ich habe sie damit umgebracht.“ Vaughn lebte schon seit mehr als zwei Jahrzehnten mit diesem Wissen. „Ich war immer bei ihr – ließ niemanden an sie heran. Ich wurde als schwieriges Kind gebrandmarkt und meine Eltern mussten mich nach den Regeln ihrer neuen Religion bestrafen.“ Stundenlang Schläge, Isolation und der Vorwurf, er sei „voller Sünde“.
Er hatte Angst gehabt, sie würden sich Skye greifen, während er eingesperrt war, aber seine Eltern hatten wohl noch nicht völlig den Verstand verloren und behielten sie in ihrer Nähe, solange seine Bestrafung andauerte. „Als sie merkten, dass ich nicht nachgab und außerdem noch den anderen Kindern erzählte, sie sollten sich vor den ‚Ältesten‘ in Acht nehmen, begannen sie einen regelrechten Feldzug, um uns
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