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Jäger der Nacht

Jäger der Nacht

Titel: Jäger der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wallace Hamilton
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für Sie oder irgendjemand sonst.»
    Er begann, durch die tiefe Dunkelheit zu laufen, als ob ihm ein Gespenst im Genick säße, das die Stimme des Mannes herbeibeschworen hatte. Er rannte in Richtung der Mirabelle, seine Augen auf die Lichtstrahlen gerichtet, die in die Halle drangen, aber auf dem holperigen Holzboden verlor er sein Gleichgewicht. Sein Knöchel knickte um, und er schlug der Länge nach hin; seine Beine und Schultern krachten aufs Holz. Schmerz durchzuckte ihn. Ein Schrei entfuhr ihm, aber er unterdrückte ihn schnell. Dennoch hallte er von den Wänden wider.
    Er lag dort auf dem Holzboden, und der Schmerz pochte in ihm. Als Kevin versuchte, wieder auf die Füße zu kommen, hörte er wieder Schritte, Schritte, die diesmal von vorn auf ihn zukamen; und im selben Moment bemerkte er auch schon eine Gestalt über sich stehen, die sich dann neben ihn kniete. Ein Schluchzen entrang sich Kevins Hals. Er streckte eine Hand aus und berührte einen Arm.
    «Hast du dir weh getan?» Die Stimme, die aus der Dunkelheit kam, war schrill, mit dem typischen Rollen der Südstaaten. «Hier, laß mich dir aufhelfen.» Kevin fühlte Hände unter seinen Achseln.
    «Nein. Ich kann’s schon selbst.»
    Aber die Hände blieben, wo sie waren, und hoben Kevin sanft hoch. «Vorsichtig jetzt.»
    Kevin lehnte sich an den Körper neben ihn – mit zitterigen Knien, immer noch mit heftigen Schmerzen in den Beinen und einem würgenden Kloß im Hals. Arme legten sich um ihn und wiegten ihn. Er lehnte seinen Kopf an die Schulter neben sich – der weiche Stoff des T‐Shirts, sanfte Haut und der leichte Duft nach Kölnischwasser – und schlang seine Arme um den Hals des anderen, um sein Gleichgewicht zu halten.
    Kevin fühlte, wie die Arme des anderen langsam auf seinem Rücken herabglitten, bis sie auf seinem Hintern lagen. Trotz der Schmerzen versteifte sich sein Glied und drückte gegen die Schenkel des Mannes. Er wurde wütend und machte sich los. «Danke», murmelte er. «Danke.»
    Er machte kehrt, sah die Lichtstrahlen hinter sich und die Lücke in der Mauer, durch die er hereingekommen war. Er humpelte dem Tageslicht entgegen. Seine Augen durchbohrten die Dunkelheit nach Gestalten, die – in seiner Einbildung – riesenhaft anwuchsen. Sie schlichen allgegenwärtig herum, flatternd, wartend... Er kämpfte sich am Pfeiler vorbei und humpelte weiter, bis er zum Durchschlupf kam. Die Sonne tat seinen Augen weh, und die Welt außerhalb der Halle wirkte auf ihn brutal in ihrer Realität. Er wandte sich um, warf einen flüchtigen Blick in die beschützende Finsternis, und für einen Moment dachte er daran, zurückzugehen zu den kräftigen Körpern, die ihn liebkost hatten. Aber dann reckte er seine Schultern, starrte auf den Pfahl, den Mauersims, den Zaun und das Wasser unter sich. Er schätzte die Entfernung ab, setzte seinen heilen Fuß auf den Pfahl und schwang sich mit dem anderen auf den Sims. Er schnappte nach Luft vor Schmerz und schien über dem Wasser zu schweben. In plötzlicher Verzweiflung griff er nach dem Zaunpfosten und hielt sich daran für einen Moment fest, bis seine Benommenheit schwand. Vorsichtig schlüpfte er durch den Durchlaß im Zaun – er war wieder in der Hafenstraße.
    Mühsam kletterte er in einen Bus, humpelte nach hinten und ließ sich auf den letzten Sitz fallen. Er versuchte, sich sozusagen unsichtbar zu machen, so daß niemand jemals erfahren würde, daß er in der Hafenstraße gewesen war. Er jedoch wußte Bescheid.

3. KAPITEL
     
    Während der Rückfahrt mit dem Bus kam es Kevin so vor, als wäre er in einem anderen Land gewesen, so schweigend und geheimnisvoll wie die Mirabelle. Er kannte weder die Sprache noch die Bräuche. Er hatte nur einen kurzen Einblick in diese Szene gehabt – «Laß deine Hosen für ‘nen Zwanziger runter», aber sogar die Gesichter der Eingeweihten waren unsichtbar gewesen.
    War Dennis einer dieser Eingeweihten? War er so zu seiner Windjacke gekommen? Mal eben die Hosen runterlassen? Wie sonst? Fantasien von nackten Körpern, die sich in der Finsternis umschlangen, gingen ihm durch den Kopf. Nicht nur ein oder zwei Körper, sondern Dutzende in einem irgendwie gespenstischen Tanz. Er stellte sich vor, von einem Mann nach dem anderen auf ihre ruhige, kraftvolle Art berührt und in den Armen gehalten zu werden. Furcht und Schrecken, die er in der Halle verspürt hatte, legten sich. Was ihm deutlicher im Gedächtnis blieb, war die Wärme dieser streichelnden Hände, die

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