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Jäger

Jäger

Titel: Jäger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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als nur ein Zirkus. Sie schicken Scouts in
alle Städte, vor allem in die Slums, um geeignete junge Leute
anzuwerben. Als sie mich entdeckten, war ich eine Waise, die allein
in einem Slum von Rio lebte. Was wusste ich denn schon? Ich war
vierzehn. Eines wusste ich allerdings: Wenn ich nicht bald von dort
verschwand, würde ich irgendwann meinen Körper verkaufen,
Drogen nehmen und jung sterben. Einen Job in einer Bar zu kriegen
oder jeden Tag ein paar Freier abzuschleppen war das Beste, worauf
ich hoffen konnte. Mein Beschützer – er wäre
früher oder später wahrscheinlich auch mein Zuhälter
geworden – unterzeichnete irgendwelche Papiere, danach besorgten
die Anwerber ein Visum und eine Arbeitsgenehmigung für mich. Sie
brachten mich nach Lee Stocking Island.«
    »Exuma Cays«, erklärte Marquez. »Auf den
Bahamas.«
    Filmtitel flimmerten über die Leinwand: »Cirque
Fantôme, Fin de Siècle, L’Ombre et la
Lumère.« Die durchsichtigen Stoffbahnen teilten sich
und gaben den Blick auf drei leere Artistenplattformen und mehrere
Trapeze frei. Stahlmasten ragten auf allen Seiten in die Höhe
– sechs alles in allem, an denen die Scheinwerfer und Taue,
Plattformen, Trapeze und Drahtseile befestigt waren.
    »Im Cirque Fantôme habe ich nicht nur
Hochseilakrobatik, Jonglieren und Tanzen gelernt, sondern auch
Englisch, Russisch und Französisch. Ich versuchte es zuerst mit
den Boleadoras. Man gehört zu einer Familie. Alle tragen
etwas dazu bei; alle arbeiten zusammen. Sie trainieren tagaus, tagein
mit dir. Das Essen ist wunderbar. Du kannst so viel essen, wie du
willst, aber du wirst nicht dick. Du trainierst alles wieder ab. Ich
hatte mein ganzes Leben lang noch keine saubere Bettwäsche und
weiche Betten gesehen oder Leute, die mich mochten. Es war wie im
Himmel.«
    Ein Clown, der von Kopf bis Fuß mindestens vier Meter
maß, stakste mit seinen sehr langen Beinen auf die
größte der Bühnen. Obwohl er sicherlich auf Stelzen
ging, tat er dies mit einer Selbstverständlichkeit und
Körperbeherrschung, wie ich es noch nie gesehen hatte. Eine
Hälfte seines Gesichts war weiß, die andere schwarz
angemalt und er trug einen grauen Anzug. Er verneigte sich tief in
der Hüfte und ließ sich dann auf die Knie nieder –
falls es Knie waren. Im Hintergrund erklang gespenstische Musik.
Über den Bühnen hob sich ein weiterer Stoffschleier und gab
den Blick auf eine aus Männern und Frauen bestehende Rockband
frei, die breit gestreifte Anzüge trugen, ähnlich den
Uniformen in Konzentrationslagern.
    »Ich war sechzehn und die Jüngste in unserer Gruppe, das
Kind«, erzählte Tammy weiter, den Blick auf die Leinwand
geheftet. »Ich war eine ganz gute Jongleurin, aber nicht so gut
auf dem Hochseil. Mir fehlte die Konzentration. Deshalb nahm mich
meine Familie zu einem Besuch bei Dr. Goncourt in seinem Haus am
Strand mit. Dort lernte ich Philippe Cabal kennen. Philippe ist einer
der wichtigsten Artisten und steht Dr. Goncourt sehr nahe. Er mochte
mich.«
    Der baumlange Clown breitete die Arme aus und drehte sich um die
eigene Achse. Artisten auf altmodischen Fahrrädern in Kleidern,
wie sie um die Jahrhundertwende getragen wurden, rollten um alle
Bühnen herum und jonglierten mit ganzen Armladungen von kleinen
Antiquitäten – Uhren, Schmuck, Lampen. Bei ihrer
nächsten Runde warfen sie Pistolen und Flinten in die Luft. Wie
sie die Gegenstände gewechselt hatten, war mir ein Rätsel.
Die Musik ging in eine Parodie militärischer Marschmusik
über.
    Tammy richtete ihre goldbraunen Augen auf mich. »Mit sechzehn
wurde ich Philippes Geliebte. Er war mein Liebhaber und gleichzeitig
mein Vater. Mein Meister.«
    Marquez verschränkte die Hände hinter dem Kopf und
starrte zur Leinwand empor. »Du hast das mit dem Schiff nicht
erzählt«, erinnerte er sie sanft. Als er einen Knopf der
großen Fernbedienung drückte, liefen die Bilder schneller.
Der Clown und die Radfahrer flitzten umher und die Musik
verkürzte sich zu einem fröhlich lärmenden
Geleier.
    »Oh, ja. Sie haben fünf Jahre lang daran gebaut. Sie
nennen es Lemuria. Es ist riesig.«
    »Der schwimmende Wolkenkratzer – mit
Eigentumswohnungen?«, fragte ich. »Ich hab davon in den
Zeitungen gelesen.«
    »Sechshundert Meter lang«, sagte Marquez. »Eine
Steueroase für reiche Arschlöcher wie mich.« Er hielt
das Bild an, als der lange Clown die Hauptbühne
verließ.
    »Das ist Philippe«, sagte Tammy leise.
    »Scheißtyp«, knurrte Marquez, drückte den
Schnellvorlauf,

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