Jäger
bis der Clown von der Bühne abgetreten war, und
hielt das Bild wieder an.
Tammys Augen waren wirklich ganz erstaunlich, ihre Iris wie
goldgefleckte Kastanien. »Sie haben nicht alle Wohnungen auf dem
Schiff verkauft. Sie haben Geldprobleme. Goncourt, der Direktor von
Fantôme, unser Arzt und unser Vater, schlug vor, der Zirkus
solle Räumlichkeiten auf der Lemuria mieten. Wir
würden den Bewohnern Unterhaltung bieten und zugleich Werbung
für das Schiff machen. Die Aktionäre der Lemuria waren einverstanden, also hat Dr. Goncourt sein
Ausbildungszentrum und das Medizinische Institut von Lee Stocking
Island auf die Lemuria verlegt. Ich ging letztes Jahr an Bord
der Lemuria, um mit Philippe zusammenzuleben und um in den
Genuss von Dr. Goncourts Behandlungen zu kommen.« Sie fiel ins
Präsens: »Er möchte aus uns die besten Athleten und
die diszipliniertesten Artisten machen, die die Welt je gesehen hat.
Wir werden nie krank, wir sind immer stark, wir sind immer
ausgeglichen. Wir sind die Besten.«
Marquez ließ das Video weiterlaufen. Fünf Frauen in
goldenen Trikots kletterten an den Stahlmasten zu ihren Seilen empor
und begannen einen Hochseilakt.
In Tammys Augen trat ein träumerischer Ausdruck; ich sah
darin die Erinnerung an wundervolle Tage, Engagement, Loyalität
und Vertrauen. »Philippe hat gesagt, Dr. Goncourt sei ein Genie.
Für mich war er Gott. Er wählte unser Essen aus und
überwachte unser Training. Er verordnete uns besondere
Bäder, die ganz scheußlich nach Schwefel rochen. Wir
schrubbten darin unsere Haut. Aber er hat uns nie Drogen gegeben. Ich
fühlte mich so gut wie noch nie zuvor. Ich lernte, mit den Boleadoras umzugehen. Ich war mit ihnen inzwischen
erstklassig, sogar auf dem Hochseil. Philippe war sehr stolz auf
mich. Sie sagten mir, ich könne jetzt auf Reisen
gehen.«
Der Hochseilakt war atemberaubend, voller Kraft und Beweglichkeit,
wie ich sie noch nie gesehen hatte, voller Anmut und
Körperbeherrschung. Die jungen Frauen schienen in der Luft zu
tanzen und manchmal sogar zu fliegen.
»Von Philippe erfuhr ich, dass einige aus der Familie mehr
taten, als nur im Zirkus aufzutreten. Sie reisten umher und
erledigten für Dr. Goncourt Gefälligkeiten. Er fragte mich,
ob ich das auch wolle. Alles war toll und aufregend. Ich liebte
Philippe so sehr, dass ich alles für ihn getan hätte. Ich
war einverstanden. Er empfahl mich für diese Aufgabe und stellte
mich dem Komitee vor. Es bestand aus älteren Leuten, die schon
vor der Gründung von Fantôme bei Dr. Goncourt gewesen
waren. Olympia-Athleten und Artisten aus Russland.«
»Scheiß Kommunisten«, brummte Marquez. Er verbarg
die Augen hinter seiner Hand, legte dann den Kopf in den Nacken und
starrte an die Decke.
»Verdammte Juden«, schoss Banning erbost
zurück.
Tammy presste blinzelnd den Handrücken auf den Mund und biss
sich in den Knöchel. »Das Komitee akzeptierte mich und
Philippe…«
Marquez kochte über vor Wut. Er sprang auf und deutete mit
ausgestrecktem Arm auf Banning. »Ich werde Ihnen was über
Juden erzählen«, schrie er. »Ich werde Ihnen, verdammt
noch mal, was über Täter und Opfer erzählen!«
Bannings Augen weiteten sich, auf seiner Stirn erschienen tiefe
Falten. »Marx, Trotzki, Sinowjew, Kamenew… Die Kommunisten
wurden vom Weltjudentum doch erst an die Macht gebracht, von Juden,
die sich selbst und ihr Volk hassten!«
Marquez sprang beinahe über die Sessel hinweg, um Banning an
die Kehle zu gehen. Tammy hielt ihn zurück.
Banning war nicht mehr zu bremsen. Er konnte nicht mehr
aufhören. »Die Juden haben ihren Untergang selber
herbeigeführt, Schritt für Schritt, und haben dann Hitler
die Schuld in die Schuhe geschoben. Aber Stalin hat mindestens so
viele umgebracht wie die Nazis. Er hat alle Juden in seiner Umgebung
– bis auf einen – umgebracht oder nach Sibirien deportiert.
Und wer hat ihn an die Macht gebracht? Juden! Wer hat
für ihn spioniert? Kommunistische Juden. Die Rosenbergs, Ted
Hall… Juden! Verdammt sollen sie sein!«
Marquez stieß einen gequälten Schrei aus. »Ich
bring dich um!« Er stieß Tammy zur Seite. Banning lehnte
sich über die Lehne seines Sessels zurück und hob die Arme,
um sich gegen Marquez’ Angriff zu verteidigen. Marquez krallte
die Hände um Bannings Hals und schüttelte ihn wie ein
Huhn.
Cousins nickte mir zu, als seien wir zwei Polizisten, die seit
Jahr und Tag zusammen auf Streife gingen. Während Tammy
»Hört auf! Hört auf!« schrie, packten wir
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