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Jäger

Jäger

Titel: Jäger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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Tränen. Ich wischte sie hastig fort
und nahm den prallen Umschlag in beide Hände.
    K beobachtete mich. »Er ist direkt von Ihrem Bruder«,
sagte er leise. »Also nicht verseucht. Aus seinen Händen in
meine und direkt in Ihre, und – wie Sie sehen…«
    »Bitte«, sagte ich.
    »Es ist wichtig, Dr. Cousins. Es war ihm ein besonderes
Anliegen, dass kein anderer als Sie den Umschlag
öffnet.«
    Unter dem Klebeband, das die Klappe des Couverts verschloss,
lugten Haare von derselben Farbe wie meine hervor, ganze
Büschel, die kreuzweise angeordnet waren. Auch die untere und
seitliche Falzung des Umschlags waren mit Klebestreifen und Haaren
gesichert. Paranoid. Von Misstrauen getrieben. Die Art, wie der
Umschlag verschlossen war, passte zu der paranoiden
Gemütsverfassung, die Rob in der letzten Botschaft an mich, der
Nachricht auf dem Handy, hatte erkennen lassen.
    »Ich soll das anschauen und Ihnen wieder
zurückgeben?«, fragte ich.
    »Es gehört Ihnen«, sagte K und fischte ein
Taschentuch hervor, um sich die Nase zu putzen. »Sie können
damit machen, was Sie wollen. Ich würde allerdings vorschlagen,
dass Sie es nicht hier lesen.«
    »Vielen Dank«, sagte ich.
    »Rob hat mir ans Herz gelegt, auf Sie aufzupassen. Also komme
ich seinem Wunsch nach. Die Lage wird allmählich
ungemütlich. Sie müssen mit dem Training
anfangen.«
    »Was für ein Training?«, erkundigte ich mich. Trotz
des Umschlags war ich entschlossen, bald aufzustehen und diesen
geheimnisvollen Mr. K seinen geistigen Ticks zu überlassen. Ich werde nicht zulassen, dass mich Robs Wahn zusammen mit ihm in
den Abgrund zieht.
    »Überlebenstraining«, erklärte K. »Haben
Sie Geld?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Ich kenne eine Frau in der Stadt, die sehr gut auf dem
Gebiet ist. Sie nimmt selten jemanden aus altruistischen Motiven. Ich
hoffe, wir können das Geld auftreiben, das sie
verlangt.«
    »Was für eine Art von Überlebenstraining –
draußen in der Wildnis in Tarnzelten leben und sich von
Würmern und Eidechsen ernähren?«
    K lächelte mit väterlicher Nachsicht, was mich noch mehr
irritierte als seine Anflüge von Fanatismus. »Sie bringt
Leuten bei, wie sie Anschlägen auf ihr Leben entgehen
können. Ich werde einen Termin mit ihr ausmachen. Essen Sie Obst
und frisches Gemüse?«
    Ich sah von dem Umschlag auf. »Ja«, erwiderte ich und
hoffte, damit nicht irgendein wichtiges Geheimnis preiszugeben.
    K bedachte mich mit einem tadelnden Blick. »Hören Sie
sofort damit auf«, sagte er. »Nur noch Dosen. Und als
Ergänzung Vitaminsäfte in verschweißten
Behältern. Kaufen Sie immer wieder in anderen, weit auseinander
liegenden Läden ein, vorzugsweise in Supermärkten. Gehen
Sie Fremden aus dem Weg, ebenso Freunden, die sich seltsam benehmen.
Mit der Zeit werden Sie allen Ihren Freunden aus dem Weg gehen.
Freunde und Geliebte sind unsere größten
Schwachstellen.«
    Mir fiel der kleine Mann mit der Spritzflasche ein. Falls jemand
dabei war, die ganze Stadt zu vergiften, hätten es die
Nachrichten sicher schon gebracht.
    »Aus welchem Grund sollte ich auf Sie hören?«,
fragte ich.
    »Ihr Bruder hat alles Mögliche getan, um sich zu
schützen, und es sah auch eine ganze Weile so aus, als
würde es ihm gelingen.« Er deutete auf den Umschlag.
»Aber letztlich hat ihn das, was er nicht ahnen konnte,
umgebracht.« K rutschte seitlich aus der Nische.
    Mein Scotch war noch halb voll.
    »Die Runde geht auf mich«, sagte K. »Reden ist
heilsam.« Zum ersten Mal fiel mir auf, dass er einen glatten,
beigefarbenen Handschuh über die nicht bandagierte Hand gezogen
hatte. Er holte einen Geldschein aus der Brieftasche. »Sie
können uns nämlich mittels Münzen und Banknoten
erreichen, müssen Sie wissen«, erklärte er. »Aber
Bargeld ist immer noch besser, als durch Überweisungen per
Kreditkarte aufgespürt zu werden.«
    Wir traten in den frühen Abend hinaus. Die Luft in Berkeley
war mild und angenehm; eine hohe Dunstschicht filterte das
Sonnenlicht. Ich hielt Robs Umschlag mit beiden Händen fest.
Unwillkürlich fasste ich die Leute um uns herum näher ins
Auge – den vorüberschlurfenden alten Mann im
schmutzstarrenden braunen Mantel, der unverschnürte Stiefel
trug; die junge Frau mit glasigem Blick, pfirsichfarbenem Haar und
schneeweißer Haut; die beiden nach Geld aussehenden Typen in
grauen Anzügen, einander so ähnlich wie zwei frisch
gestriegelte Vollblutpferde.
    »Warten Sie«, sagte ich und blieb an der Ecke stehen.
»Mein Bruder ist tot.

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